Interview zur Gaskrise„Ich würde die verbliebenen Akw weiterlaufen lassen“

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Isar 2 240722

Kühlturm des Atomkraftwerks (AKW) Isar 2.

  • Der Notfallplan von NRW-Innenminister Herbert Reul zur Sicherstellung etwa der Treibstoffversorgung bei der Polizei sei längst überfällig gewesen, so der Infrastruktur-Experte Hans-Walter Borries.
  • Seiner Meinung nach müssen wir die Energiewende überdenken, weil sie mit der Brückentechnologie Gas geplant wurde.

Fehlende Gasmengen erhöhen im Winter die Gefahr eines großen, flächendeckenden Blackouts in Deutschland. Das Land sei auf einen solchen Blackout nicht vorbereitet, sagt der Experte für kritische Infrastruktur, Hans-Walter Borries, im Interview. Auch Behörden und Verwaltungen hätten solche Katastrophen-Szenarien bislang nicht in ausreichendem Maße geübt. Die Laufzeiten der restlichen AKWs sollten aus seiner Sicht verlängert  und sogar über eine Wiederinbetriebnahme von bereits abgeschalteten AKW nachgedacht werden.

Frage: Herr Dr. Borries, in der vergangenen Woche kam es in Nordrhein-Westfalen in mehreren Kreisen, darunter Kreis Euskirchen und Rhein-Erft-Kreis, zu einem mehrstündigen Stromausfall. Nach spätestens vier Stunden hatten fast alle Betroffenen wieder Strom – wie lange dauern Stromausfälle aber durchschnittlich in Deutschland?

Dr. Hans-Walter Borries: Das war ein lokal begrenzter Stromausfall, der immer wieder in Deutschland vorkommt, wenn es zum Beispiel, wie im vorliegenden Fall, Unfälle gibt. Das sind Ereignisse, die sich im Jahr in der Statistik über Stromausfälle auf Werte von 15 bis 11 Minuten, zuletzt sogar deutlich weniger, pro Endverbraucher belaufen. Das bedeutet, dass wir im Grunde in Deutschland eine sehr sichere Stromversorgung haben, was man ja auch von einem hoch technisierten Industrieland erwarten kann.

Solche kleineren Stromausfälle sind also nicht das eigentliche Problem?

Die wirkliche Gefahr, die wir sehen, das ist der lang anhaltende, großflächige Stromausfall von mehreren Tagen, der dann auch die Definition „Blackout“ verdient. Was wir allerdings feststellen ist, dass die Stromnetze in den vergangenen Jahren instabiler geworden sind, insbesondere bei Stromausfällen im Bereich von Sekunden bis maximal drei Minuten.

Das mag unbedeutend erscheinen.

Richtig, das sind Ereignisse, die dem Normalbürger gar nicht auffallen, die aber zum Beispiel für ein EDV-Unternehmen oder ein glasverarbeitendes Unternehmen bereits zu Produktionsausfällen und immensen wirtschaftlichen Schäden führen können.

Steigt durch die Energiewende die Gefahr für Stromausfälle in Deutschland weiter an?

Ja. Unter der Prämisse, dass die erneuerbaren Energien uns nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Die regenerativen Energien erbringen derzeit ja nur 49 Prozent des benötigten Stroms. Und die Gasverstromung als Brückentechnologie bricht derzeit drastisch ein. Wir brauchen aber auch heute noch die schnell anfahrenden Gaskraftwerke zum Kompensieren der Versorgungslücken, die es bei Dunkelheit oder Flaute gibt. Ein weiterer Vorteil der Gaskraftwerke ist auch, dass sie über Fernwärmeleitungen Heizenergie und Warmwasser für viele Haushalte liefern.

Zur Person

Dr. Hans-Walter Borries

Hans-Walter Borries ist Experte für Kritische Infrastruktur. Er hat zu Themen wie Bevölkerungsschutz und Krisenmanagement zahlreiche Fachbücher veröffentlicht. Er ist Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sicherheitsstudien Firmitas im Forschungs- und Entwicklungszentrum der Universität Witten/Herdecke in Witten und Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Seit Juni 2018 ist er stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Bundesverband Schutz Kritischer Infrastrukturen.

Wie kann denn unter diesen Voraussetzungen Energiesicherheit in Deutschland hergestellt werden?

Die Sorge aller Experten ist, dass es bei einem sehr kalten, schneereichen Winter bei einer Reduzierung der russischen Gasmengen auf vielleicht nur 20 Prozent der vertraglich vereinbarten Liefermengen nicht gelingen wird, Deutschland mit seinem Bedarf für private Haushalte, Verkehr und Industrie sicher über den Winter zu bringen. Zurzeit erleben wir ja, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck Sparmaßnahmen propagiert. Er appelliert an Bürger, den Handel und Verkehrsbetriebe, dass wir die Gasnutzung reduzieren. Das geht ja so weit, dass auch schon Städte darüber nachdenken, Beleuchtung, wie etwa beim Kölner Dom, einzuschränken. Das sind alles sehr sinnvolle Maßnahmen, die Frage ist nur, ob das schon ausreicht.

Wie groß schätzen Sie denn das Potenzial für Einsparungen auf dem Energiesektor ein?

Es gibt ein relativ aktuelles Gutachten des Bundesverbands der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft, BDEW, das besagt, dass mit allen Einsparmaßnahmen der privaten Haushalte maximal 10 bis 15 Prozent, in der Industrie je nach Branche sogar nur 0 bis maximal 15 Prozent der Energie eingespart werden kann. In der Summe reicht das alles gerade einmal, um ein Drittel der Gasmenge zu subsummieren, die uns vertraglich aus Russland zugesichert ist. Umso wichtiger ist es, jede Kilowattstunde, die eingespart werden kann, auch tatsächlich einzusparen.

Wir bleiben also weiter abhängig von Gasimporten?

Ja. Denn gleichzeitig können auch unsere europäischen Nachbarn aus den Niederlanden oder Norwegen nicht einfach ihre Gaslieferungen an uns erhöhen. Und ob tatsächlich die für die Anlieferung von Flüssiggas benötigten LNG-Terminals noch in diesem Winter gebaut werden können, halte ich nach den Erfahrungen bei großen öffentlichen Bauprojekten doch für sehr fraglich. Kommt es dann auch noch zu einem kalten Winter, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die verfügbare Gasmenge nicht ausreicht und dass die gespeicherten Vorräte in den Gasspeichern nur für einige Wochen, aber garantiert nicht für mehrere Monate, ausreichen werden.

Würden Sie jetzt in dieser Situation die Laufzeit der restlichen Atomkraftwerke verlängern, wenn dies technisch möglich ist, um die Energiesicherheit zu erhöhen?

Ja, ich würde die drei verbliebenen AKW im Streckbetrieb zumindest bis zum Sommer 2023 weiterlaufen lassen. Ich würde auch die Überlegung anstellen, ob nicht auch eines oder zwei der Ende des vergangenen Jahres stillgelegten Atomkraftwerke wieder hochgefahren werden könnten. Im Endeffekt geht es darum, ob die Energiewende, wie wir sie vor Beginn des Ukraine-Krieges geplant haben, jetzt überhaupt noch umgesetzt werden kann.

Wodurch kann es in einer Gasmangellage zu einem großen, flächendeckenden Stromausfall, einem Blackout, kommen?

Wenn Energiebedarf und die verfügbare Energiemenge nicht mehr im Gleichgewicht sind, dann kann es zu Schwankungen in den Stromnetzen kommen. Mit einem Vorlauf von nur wenigen Minuten kommt es dann zum so genannten Lastabwurf. Kaskadierend könnten dann ganze Regionen von der Stromversorgung getrennt, abgeworfen werden. Das wäre eine Situation, die wir in Deutschland noch nie hatten. Wir kämen dann in einen Blackout hinein, den wir bislang immer nur theoretisch behandelt haben. Ohne Überkapazitäten bei der Stromversorgung, die wir in einem solchen Fall kurzfristig hochfahren könnten, könnte ein solcher Blackout dann bis zu mehreren Tagen anhalten.

Glauben Sie, dass wir im Winter 22/23 einen Strommangel-Blackout in Deutschland erleben werden?

Wenn wir einen frühen, sehr starken, mit extremen Tiefsttemperaturen und langen Winter bei Ausbleiben der kompletten russischen Gaslieferungen bekommen, dann ja.

Wie sind denn zum Beispiel die öffentlichen Verwaltungen auf ein solches Szenario vorbereitet?

Es gibt bundesweit nur ganz wenige Landkreise, die so einen Strommangel-Blackout schon einmal geübt haben. Das ist wie bei der Pandemie, wo allen Experten klar war, dass es jederzeit zu einem solchen Ereignis kommen kann. Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wollten aber nicht an so einen negativen „worst case“ glauben und waren dementsprechend nicht darauf vorbereitet.

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Warum bieten Notstromaggregate, die gerade auch in ländlich strukturierten Gebieten von vielen Privathaushalten angeschafft werden, nur eine – wie Sie sagen – scheinbare Sicherheit?

Das Problem ist die Versorgung mit Kraftstoffen. Die meisten Notstromaggregate benötigen Benzin oder Diesel. Dieselkraftstoff ist aber nur sehr begrenzt haltbar und muss immer wieder umgeschlagen werden. Der Grund sind die Bakterien im beigemischten Biodiesel-Anteil. Sie zersetzen den enthaltenen Kohlenstoff und bilden daraus eine schlammartige Masse, die so genannte Dieselpest. Dadurch verstopfen die Kraftstofffilter der Aggregate. Notstromaggregate sind also ein erster wichtiger Schritt, sie setzen aber ein Logistikkonzept voraus, denn schließlich müssen auch genug Kraftstoffe zur Verfügung stehen oder gelagert werden, damit sie im Notfall verfügbar sind. Im privaten Bereich ist das nur sehr eingeschränkt zulässig – man denke nur an die Explosionsgefahr.

NRW-Innenminister Reul hat einen Notfallplan für die 47 Polizeibehörden im Land erstellen lassen, um zum Beispiel die Treibstoffversorgung im Notfall sicherzustellen. Kommt das noch rechtzeitig?

Das war lange überfällig. Untersuchungen haben gezeigt, dass die so genannten Blaulicht-Organisationen wie Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst – aber auch in zunehmendem Maße die Bundeswehr – fast ausschließlich vom öffentlichen Tankstellennetz abhängig sind. Das Problem ist, dass nur etwa maximal 100 der 14.200 Tankstellen in Deutschland notstromgepuffert sind. Ohne eine entsprechende Bevorratung von Treibstoffen bei den Dienststellen wären also auch die meisten Einsatzfahrzeuge nach wenigen Tagen nicht mehr einsatzfähig.

Das Gespräch führte Thorsten Wirtz

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