Lingen und GronauHier ist Kernkraft in Deutschland auch nach 2022 präsent

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Lingen/Gronau – Wenn in Deutschland spätestens Ende 2022 das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht, ist das Kapitel Kernenergie in der Bundesrepublik abgeschlossen – oder fast. In zwei Städten in Westfalen und Niedersachsen dürfen eine Urananreicherungsanlage und eine Brennelementefabrik weiter laufen. Letztere bald womöglich auch mit russischer Beteiligung: Das Bundeskartellamt hat die Freigabe für ein Gemeinschaftsunternehmen gegeben.

Im niedersächsischen Lingen hat die Kernenergie eine lange Tradition. Gleich zwei Kernkraftwerke gibt es in der knapp 60000-Einwohner-Stadt rund 30 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt. Während das Kernkraftwerk Lingen bereits 1977 vom Netz ging, wird das Kernkraftwerk Emsland in direkter Nachbarschaft Ende 2022 folgen. Im vergangenen Jahr bot es noch rund 11,4 Millionen Megawatt Strom am Markt an und versorgte rund 3,4 Millionen Haushalte mit Strom.

Betrieb trotz politischer Erklärung

Damit ist das vom Energiekonzern RWE betriebene Kraftwerk Emsland eines der letzten beiden Atommeiler, mit dessen Stilllegung die Kernkraft-Ära der Bundesrepublik zu Ende geht. Oder, nicht ganz: Denn in der Stadt im Emsland wird eine Brennelementefabrik den deutschen Atomausstieg zunächst überdauern. Auch wenn im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD bereits 2016 festgeschrieben wurde, dass ein rechtssicheres Aus geprüft werden soll, wird das Unternehmen Advanced Nuclear Fuels (ANF), das aus der 1975 gegründeten Exxon Nuclear GmbH hervorgegangen ist, weiter produzieren.

ANF ist ein Tochterunternehmen des französischen Kerntechnik-Unternehmens Framatome. In einer Betriebsstätte im unterfränkischen Karlstein werden ausschließlich Komponenten für Brennelemente und Kerneinbauteile wie Abstandhalter gefertigt. Der Standort, an dem die „nukleare“ Produktion stattfindet, ist Lingen. Mit rund 328 Mitarbeitern werden im Emsland Brennelemente für Druck- und Siedewasserreaktoren gefertigt ebenso wie Spezialprodukte im Pulver- und Tablettenbereich.

Eigenen Angaben zufolge wurden seit Betriebsbeginn mehr als 38000 Brennelemente, die aus mehr als 6,8 Millionen Brennstäben bestanden für Reaktoren in Deutschland und im westeuropäischen Ausland gefertigt. Insgesamt dürfen in Lingen pro Jahr bis zu 800 Tonnen Uranpulver hergestellt werden, von denen 650 Tonnen in Brennelementen verbaut werden dürfen. Ausgereizt hat das Unternehmen Informationen unserer Redaktion zufolge diese Grenzen allerdings nicht.

Grohnde wieder am Netz

Das Atomkraftwerk Grohnde bei Hameln ist nach seiner letzten Revision vor der endgültigen Stilllegung wieder ans Netz gegangen. „Die Corona-Pandemie hat die Rahmenbedingungen ziemlich erschwert. Trotzdem sind alle sicherheitsrelevanten Arbeiten und erforderlichen Prüfungen wie geplant und vollständig erfolgt“, sagte Niedersachsens Umwelt- und Energieminister Olaf Lies (SPD) nach Abschluss der Arbeiten.

Das Kraftwerk läuft seit dem Jahr 1984, Ende 2021 soll es endgültig stillgelegt werden. Sein Rückbau ist dann bis zum Jahr 2030 geplant. (dpa)

Der Standort in der Stadt nahe der niederländischen Grenze fertigt jedoch nicht nur Brennstäbe. Zuletzt habe das Unternehmen auch Aufträge für den Um- und Auseinanderbau von noch nicht eingesetzten Brennstäben erhalten, heißt es seitens des Unternehmens. Damit leistet ANF in gewisser Weise auch einen Beitrag zum Atomausstieg in Deutschland, während es gleichzeitig bei einer Exportquote von rund 90 Prozent dazu beiträgt, dass Kernkraftwerke im Ausland weiterlaufen können.

Und auch ein weiterer Geschäftsbereich sei zu einem wichtigen Standbein geworden: die Entwicklung und der Bau von Produktionsmaschinen. Von den 476 Mitarbeiter werden mehr als 300 am Hauptsitz in Niedersachsen beschäftigt. Im abgelaufenen Geschäftsjahr erzielte ANF einen Umsatz von 94,7 Millionen Euro.

Für seinen Export von Brennelementen in vermeintlich unsichere Kernkraftwerke im Ausland stand das Unternehmen in den vergangenen Jahren auch immer wieder in der Kritik. Als nun jüngst bekannt wurde, dass das russische Atomunternehmen TVEL, in die Brennelementefabrik einsteigen will, hat das hohe Wellen geschlagen. Der Konzern ist auf dem Gebiet der Urankonversion, der Urananreicherung und der Kernbrennstoffherstellung aktiv. Unter anderem die Grünen im Landtag sahen einen Einstieg bei ANF kritisch. Das würde aus ihrer Sicht die Optionen für eine Schließung der Brennelementefabrik erschweren. Ob dem so ist, bleibt abzuwarten. Das Bundeskartellamt hat jedenfalls bereits die Freigabe für ein Gemeinschaftsunternehmen der ANF-Muttergesellschaft Framatome und TVEL erteilt.

Framatome hüllt sich über Pläne in Schweigen

Was konkret jedoch geplant ist und welche Auswirkungen ein Gemeinschaftsunternehmen auf die Produktion in Lingen hat, dazu hüllt sich Framatome auf Anfrage in Schweigen. Man kommentiere laufende administrative Verfahren nicht, ebenso wenig wie den rechtlichen und politischen Stand des deutschen Atomausstiegskonzepts, heißt es aus Paris.

Auch wenn sich seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrags nicht viel getan hat – für das Bundesumweltministerium bleibt ein langfristiger Weiterbetrieb der Brennelementefabrik ebenso wie der Urananreicherungsanlage in der 50000-Einwohner-Stadt Gronau in Westfalen mit dem Atomausstieg in Deutschland nicht zu vereinbaren. „Deshalb setzt es sich für die Schließung der Anlagen in Lingen und Gronau ein, die in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden muss“, heißt es in dem von Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) vorgelegten Zwölf-Punkte-Plans zur Vollendung des Atomausstiegs anlässlich des zehnten Jahrestages der Reaktorkatastrophe in Fukushima im März dieses Jahres. Laut Gutachten im Auftrag des BMU sei eine Schließung rechtssicher möglich. „Ein entsprechender Vorstoß des BMU fand in dieser Legislaturperiode allerdings nicht die notwendige Unterstützung in der Bundesregierung“, heißt es weiter.

Ambitionierte Ziele für Energieerzeugung

Auf Landesebene bekommt Schulze Unterstützung von Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD). Er habe sich der Forderung, die Anlagen in Gronau und Lingen auf absehbare Zeit stillzulegen, bereits angeschlossen, teilte das Umweltministerium auf Anfrage mit. Entwicklungs- und Wachstumschancen für die Zukunft der Energieerzeugung sehe man einzig im Ausbau erneuerbarer Energien. Die Ziele Niedersachsens sind ambitioniert: Bis 2040 soll der Energiebedarf komplett aus regenerativen Energien gedeckt werden. Hier passe ein Weiterbetrieb der Brennelementefertigungsanlage in Lingen – auch vor dem Hintergrund des Atomausstiegs – politisch schlicht nicht mehr in die Zeit. Die Brennelementfertigung habe in Deutschland auf Dauer keine Zukunft mehr, heißt es aus Hannover.

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Unterstützung kommt auch seitens der Grünen im niedersächsischen Landtag. „Spätestens mit einer Grünen-Regierungsbeteiligung ab Herbst soll die Stilllegung der Anlagen im Emsland vorangetrieben werden“, teilte Miriam Staudte, atompolitische Sprecherin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, gegenüber unserer Redaktion mit. Wenn die SPD hinter ihrer eigenen Bundesumweltministerin stehe, müsse sie nun innerhalb der Koalition in Bund und Land tatsächlich aktiv werden, forderte die Landtagsabgeordnete. Es bleibt also abzuwarten, ob die beiden Städte Lingen und Gronau die letzten Hochburgen der Atom-Ära in Deutschland bleiben.

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