Sparkassenchef irritiertIst man mit 3600 Euro netto im Monat bereits arm?

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Geld dpa

Nach wie vor gibt es große Gehalts-Unterschiede in Deutschland.

Köln – Diese Aussage von Helmut Schleweis, dem Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV), hat in dieser Woche für Diskussionen gesorgt: „Bei den aktuellen Preissprüngen benötigen nach unseren Berechnungen 60 Prozent der Haushalte ihre gesamten monatlichen Einkünfte und mehr, um die laufenden Ausgaben zu decken“, erklärte er jüngst vor Journalisten. Die Folge laut Schleweis: „Haushalte mit monatlichen Nettoeinkommen unter 3600 Euro werden am Monatsende kein Geld mehr übrig haben und Lücken teilweise durch eigene Ersparnisse ausgleichen müssen.“

Dass es bei der Pressekonferenz eigentlich um die Zukunft des Mittelstands ging, geriet schnell in den Hintergrund. Für Schlagzeilen sorgte stattdessen die verkürzte Aussage: Die Armutsgrenze für einen deutschen Haushalt liege nun bei 3600 Euro Nettoeinkommen im Monat.

Sind 3600 Euro netto nicht mehr genug zum Leben?

Dieser Schluss ist nicht korrekt. Nach Definition der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. Das ist etwas ganz anderes, als die von DSGV-Chef Schleweis erwähnten 60 Prozent der Haushalte, die kaum noch ihre Ausgaben decken können.

Was sagt der DSGV zur Aussage seines Chefs?

Der Sparkassenverband teilt auf Nachfrage unserer Redaktion mit: „Die typisierende Darstellung bedeutet nicht, dass Menschen unterhalb der Schwelle von 3600 Euro automatisch arm sind.“ Es gebe verschiedene Möglichkeiten, auf eine Lücke zwischen Einkommen und Ausgaben zu reagieren. Optionen dafür seien unter anderem, die Kosten zu senken, auf Konsum zu verzichten oder auf Erspartes zurückzugreifen. Doch das funktioniere nicht endlos, so der DSGV. Der Verband fordert deshalb Entlastungen für die Mittelschicht und einen Energiepreisdeckel für Strom und Gas – und versteht seine Berechnung eher als Warnung. Denn ein zurückhaltendes Konsumverhalten werde sich schließlich auch negativ auf den Einzelhandel und die allgemeine Wirtschaft hierzulande auswirken.

Wie kommt die Schwelle von 3600 Euro zustande?

Dazu erklärt der DSGV: „Unsere Berechnungen beruhen auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die das Statistische Bundesamt zuletzt 2018 erhoben hat. Die Einkommen und Preise haben wir dabei auf das heutige Niveau justiert.“ Die Auswertung der Stichprobe des Bundesamts umfasst 193 Seiten. Unklar ist, welche Werte der Verband angepasst hat. Aus Zahlen des Mikrozensus für das Jahr 2020 geht hervor, dass in einem Haushalt durchschnittlich 2,06 Personen leben. Derzeit unklar ist, von welcher Haushaltsgröße die Sparkasse für ihre Berechnungen ausgeht.

Wie belastbar ist die Berechnung des DSGV?

Das ist unklar. Valeriya Dinger, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Osnabrück, sagt: „Es wäre hilfreich, die genauen Daten zu kennen, die der Sparkassenverband für seine Justierung verwendet hat. Dann könnte man sagen, ob die Berechnung belastbar ist oder nicht. Der Ansatz ist grundsätzlich nicht falsch, aber es kann dabei zu Verzerrungen kommen.“

Wann ist man hierzulande armutsgefährdet?

2021 lag der Schwellenwert für Armutsgefährdung für Alleinstehende laut Statistischem Bundesamt bei 1251 Euro netto im Monat (15009 Euro netto im Jahr) und für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2627 Euro netto im Monat (31520 Euro netto im Jahr). Demnach waren im vergangenen Jahr rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Das entspricht 15,8 Prozent der Bevölkerung.

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