Dr. Michelle M. Chen im Interview"Arzneimittelforschung und -entwicklung fördern"

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Dr. Michelle M. Chen ist Vizepräsidentin und Leiterin der Unternehmensentwicklung bei WuXi Biologics.

Im Interview spricht Dr. Michelle M. Chen, die Vizepräsidentin und Leiterin der Unternehmensentwicklung bei WuXi Biologics, über die Weiterentwicklung von Arzneimitteln, Herausforderungen in der Zukunft sowie interessante technologische Trends der Branche.

Frau Chen, wie hat sich die Landschaft der Wirkstoffentdeckung und Arzneimittelentwicklung Ihrer Meinung nach im Laufe der Jahre entwickelt und was sind einige der Vorteile der aktuellen technologischen Entwicklung?

Dr. Michelle M. Chen: Als ich als Laborwissenschaftlerin in die Biotech-Branche eintrat, war dies während der Zeit der genomischen Revolution. Mit dem Abschluss der Sequenzierung des menschlichen Genoms und der Einführung von DNA-Microarray-Technologien war die Prognose damals, dass neue Biotechnologien die Entwicklungszeit von Arzneimitteln verkürzen und das Risiko von Entwicklungsfehlschlägen verringert würden. Die Realität heute ist, dass die Kosten für die Entwicklung eines neuen Arzneimittels jetzt mehr als zwei Milliarden US-Dollar betragen, gegenüber 800 Millionen US-Dollar im Jahr 2003. Und die Erfolgsquote klinischer Studien ist um die Hälfte auf zwölf Prozent gesunken. Andererseits sehen wir die positiven Auswirkungen der technologischen Innovationen, insbesondere in der Präzisionsmedizin, bei bispezifischen Antikörpern, bei der Entwicklung von Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (ADC) sowie bei der Gen- und Zelltherapie. Nehmen Sie beispielsweise den bispezifischen Antikörper: Vor zehn Jahren hatten weniger als zehn Prozent der klinischen Antikörper-Pipeline bispezifische Antikörpermoleküle. Dieser Prozentsatz ist in den letzten Jahren auf 25 Prozent gestiegen, da mehrere Plattformen und drei zugelassene bispezifische Antikörpermedikamente verfügbar sind. Bei WuXi Biologics haben wir Ende 2018 die bispezifische WuXiBody®-Plattform eingeführt. Heute haben wir zwölf Lizenzpartner und mehr als 20 laufende Projekte. Ich glaube auch, dass das goldene Zeitalter der Antikörper-Wirkstoffkonjugate angebrochen ist. Ich habe in den frühen 2000er-Jahren im ADC-Bereich gearbeitet, als das Konzept neu war. Die Industrie hat lange gebraucht, um herauszufinden, wie das Verhältnis von Toxin- und Antikörpermolekülen gesteuert werden kann, um das therapeutische Fenster bestmöglich zu nutzen. Heute gibt es acht von der US-amerikanischen FDA zugelassene ADC-Medikamente, von denen drei allein im Jahr 2019 zugelassen wurden. Bei WuXi Biologics stieg auch die Nachfrage nach unserem ADC-Service. Wir haben in der chinesischen Stadt Wuxi eine hochmoderne Einrichtung errichtet, um sowohl die Herstellung von Wirkstoffen als auch von Arzneimitteln zu ermöglichen, und arbeiten derzeit an 28 Projekten für Kunden auf der ganzen Welt.

Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie in der Arzneimittelforschung und -entwicklung, und welche Ansätze halten Sie für sinnvoll?

Chen: Alle Stadien der Wirkstoffentdeckung, der klinischen Entwicklung und der Arzneimittelherstellung stehen vor einzigartigen Herausforderungen. Aus der Sicht der Entwicklung von biologischen Arzneimitteln sind wir durch die Anzahl der guten Ziele, denen wir nachgehen können, und durch unser Verständnis der Biologie von Krankheiten, wie beispielsweise der Neurodegeneration, begrenzt. Vielleicht können uns neue Ansätze, wie die künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, dabei behilflich sein. Die klinische Entwicklung erzeugt immer noch die meisten Kosten und birgt erhebliche Risiken. Ich freue mich sehr über die Entwicklung von Biomarkern als begleitende diagnostische Untersuchung zum Nachweis bestimmter Substanzen oder als pharmakodynamische Werkzeuge für die Präzisionsmedizin. Der auf Biomarkern basierende Ansatz könnte die klinischen Risiken erheblich reduzieren, sodass wir die „richtigen“ Medikamente für die „richtigen“ Patienten haben. Die Herstellung ist ein sehr komplexer Prozess, der ausgeprägte technische Fähigkeiten, strenge Qualitätsprüfungen und strikte Einhaltung der standardisierten Vorgaben erfordert. Sehr oft verbringt die Branche nicht viel Zeit damit, die Herstellungsrisiken zu diskutieren. Im Fall der Gentherapie ist das biologische Risiko relativ gering, da wir alles reparieren, was in den Genen defekt ist. Die Fertigung steht jedoch im Vordergrund der Risiken. Die Schlüsselfragen sind: Können wir es herstellen? Welche Menge können wir produzieren? Wie hoch ist der Feingehalt? Handelt es sich um produktive Viren? Wie können wir den Prozess kostengünstiger gestalten?

Welche technologischen Trends beeinflussen heute die Entdeckung und Entwicklung von Arzneimitteln? Welche Best Practices sollten Unternehmen heute anwenden, um den Wettbewerbern einen Schritt voraus zu sein?

Chen: Ich sehe zwei wichtige Trends, bei denen Hightech und Arzneimittelentwicklung zusammenlaufen. Einer davon ist die Anwendung künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernens auf den Wirkstoffentdeckungsprozess. Sie können biologische Prozesse, Pfade und Querverbindungen in einem neuralen Netzwerk modellieren und Computer die Vorhersage durchführen lassen. Computer müssen trainiert werden, um die Vorhersagekraft der Modelle zu verbessern. Je umfangreicher das Training mit den damit verbundenen Ergebnissen ist, desto besser. Dieses Feld ist sehr interdisziplinär. Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen wie Informatik, Datenwissenschaft, Physik, Mathematik, Chemie und Biologie kommen zusammen, um eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Es ist eine riesengroße Herausforderung, aber aus diesem interdisziplinären Ansatz können möglicherweise großartige Erkenntnisse hervorgehen. Der zweite Trend besteht darin, die digitale Gesundheitsoptionen für die klinische Entwicklung einzusetzen. Wir alle wissen um die Bedeutung von Biomarkern in der personalisierten Medizin. Durch „digitale Gesundheit“ kann man dies auf die nächste Stufe heben. Können wir die Arzneimittelfreisetzung mithilfe von Apple-Uhren kontrollieren? Wie können wir elektronische Datenbanken und Krankenakten verwenden, um die Aufnahme von Patienten in klinische Studien zu optimieren, Nebenwirkungen zu überwachen und die Einhaltung der verschriebenen Einnahmenintervalle und -mengen zu unterstützen? Ich gehe davon aus, dass diese digitalen Tools eine immer größere Rolle bei unserer Entwicklung von Arzneimitteln spielen werden.

Das komplette Interview mit Dr. Michelle M. Chen können Sie in englischer Sprache hier lesen.  

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