Ex-Premierminister Tony Blair im Interview„Wir brauchen eines von Europa: Geduld“

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Aktuell steht Blair dem „Tony Blair Institute for Global Change“ vor.

  • Tony Blair war von 1997 bis 2005 Premierminister des Vereinigten Königreichs.
  • Mit uns hat er über den Brexit, ein zweites Referendum, Populismus und seine Botschaft an Europa geredet.
  • Laut ihm reichen Großbrittaniens Probleme bis in 19. Jahrhundert zurück.

London – Mr Blair, in Deutschland verfolgen die Menschen das politische Spektakel im Königreich und fragen sich, ob die Briten völlig verrückt geworden sind. Hat Großbritannien den Verstand verloren?

Unsere Politik ist gerade ein einziges Chaos, das kann man nicht leugnen. Die Konservativen haben sich zumindest vorläufig zu einer rechtsorientierten nationalistischen Partei gewandelt. Die Labour-Partei steht weiter links als jemals zuvor in ihrer Geschichte. Mit dem EU-Referendum ist unsere Politik aus den Fugen geraten. Aber ich kann Ihnen versichern, wir werden uns über kurz oder lang erholen, ob der Brexit stattfindet oder nicht.

Diese Woche hat der Supreme Court die von Premierminister Boris Johnson erzwungene Suspendierung des Parlaments für rechtswidrig erklärt. Wie ordnen Sie das Urteil ein?

Die Entscheidung zeigt das Ausmaß der Krise, in der die Politik steckt. Als Regierung auf diese Weise überstimmt zu werden, ist beispiellos und es begrenzt die Optionen für Boris Johnson noch weiter. Letztlich gibt es nur einen Weg, diese Angelegenheit abschließend zu klären und dieser ist, die Bevölkerung in einem erneuten Referendum abstimmen zu lassen. Anders als 2016 ist die Wahl nun klar: Brexit unter Johnsons Bedingungen oder der Verbleib.

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Dafür gibt es derzeit keine Mehrheit im Parlament. Als wahrscheinlicher gelten Neuwahlen.

Eine Wahl im Zeichen des Brexit ist im Grundsatz falsch. Wenn das Parlament durch den EU-Austritt blockiert ist, dann muss das Volk dazu befragt werden. Es handelt sich um eine konkrete, spezielle Angelegenheit. Das sollte nicht vermengt werden mit der allgemeinen Frage einer Parlamentswahl, bei der die Entscheidung zur Regierungsbildung auf Basis einer ganzen Reihe von Themen getroffen wird.

Zur Person

Tony Blair (66) war von 1997 bis 2005 Premierminister des Vereinigten Königreichs. Unter seiner Parteiführung gewann die Labour-Partei in drei aufeinanderfolgenden Wahlen. Er verfolgte einen Kurs der „politischen Mitte“ und galt sowohl als populärer Erneuerer sowie als Symbol von „Cool Britannia“ in den 90er Jahren. Dann kam der Irak-Krieg 2003, als Großbritannien an der Seite der USA in den Krieg zog – auf Basis von falschen Annahmen über Saddam Husseins mutmaßliche Massenvernichtungswaffen. Diese Entscheidung bleibt Blairs politisches Vermächtnis. Auf der Insel ist er deshalb innerparteilich als auch im Volk umstritten und unbeliebt. Heute steht er unter anderem dem „Tony Blair Institute for Global Change“ vor.

Etliche Briten fühlen sich betrogen, weil ihre Anweisung an die Politik bislang nicht befolgt wurde. Die Mehrheit der Leave-Wähler wünscht laut Umfragen einen No-Deal-Brexit. Warum ist deren Forderung so inakzeptabel, dass Sie sie auf dem Stimmzettel ignorieren würden?

Weil es nicht vernünftig für das Land ist. Das ist der Moment, in dem Politiker führen müssen. Den Auftrag zu erteilen, ist einfach. Ihn umzusetzen, nicht. Nun wird zwar anerkannt, dass die Angelegenheit zurück zum Volk getragen werden muss, aber dies sollte durch den direkten Weg eines Referendums geschehen. Im Übrigen mag eine Wahl auch kein klares Ergebnis ergeben, es könnte dasselbe passieren wie 2017 und wir enden mit einer parlamentarischen Hängepartie.

Mit Verlaub, ähnliches gilt für ein zweites Referendum. Was, wenn Leave wieder gewinnt?

Meiner Meinung nach ist Remain das bei weitem wahrscheinlichste Resultat. Die Menschen erkennen unter all den Wirren, dass der Brexit ein Fehler ist. Aber wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es würde akzeptiert werden. Falls die Briten nach diesem ganzen Chaos noch immer für den Austritt stimmen, werden Leute wie ich sagen, okay, das war’s. Entscheiden wir uns aber fürs Bleiben, dann verspreche ich Ihnen, dass die nächste Person, die das Wort Brexit nur in den Mund nimmt, aus der Stadt gejagt wird.

Ihre Labour-Partei ist tief gespalten. Gerade haben die Mitglieder beschlossen, den Kurs des Vorsitzenden Jeremy Corbyn zu stützen, nach dem man sich nicht auf eine Linie festlegen will. Würden Sie für Labour Wahlkampf machen, ungeachtet der Brexit-Position?

Labours Strategie kann man erklären, wenn man eine halbe Stunde Zeit hat. Beim Wahlkampf an der Haustür bleiben einem, wenn es gut läuft, 30 Sekunden. In Bezug auf den Brexit hätte Labour gleich zu Beginn sagen sollen: Wir akzeptieren das Referendumsergebnis, auch wenn wir diesem nicht zustimmen, aber wir behalten uns das Recht vor, den von der Regierung vereinbarten Deal dem Volk vorzulegen, wenn wir ihn als unzureichend betrachten. Das wäre eine vollkommen simple Position gewesen. Stattdessen hat Labour einen Meisterkurs in verworrener Politik geliefert.

In großen Teilen der Labour-Partei werden Sie als Persona non grata betrachtet, insbesondere unter Anhängern des Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Fühlen Sie sich politisch verloren? 

Natürlich. Die Labour-Partei hat meiner Ansicht nach eine fundamental falsche Richtung eingeschlagen. Sie wurde von der extremen Linken übernommen und diese Leute haben kein wirkliches Verständnis, wie Politik funktioniert oder wie man eine Wahl gewinnt. Aber in den nächsten zwei, drei Jahren wird das eine oder andere passieren. Entweder die Labour-Partei kehrt zurück zu einer gemäßigteren Position oder die britische Politik wird sich grundlegend neu formen. Wenn die zwei großen Parteien meinen, sie könnten sich weiterhin so verhalten, werden sie an einem bestimmten Punkt einen Schock erleben. Denn ich bin ganz sicher nicht die einzige Person, die sich im Moment politisch etwas heimatlos fühlt. In einer Demokratie füllt sich dieses Vakuum schlussendlich.

Das Königreich galt stets als schwieriges EU-Mitglied. Nun verursacht der Brexit Probleme in der Gemeinschaft. Warum sollte die EU nach diesem Drama die Briten überhaupt noch halten wollen?

Europa wird ohne Großbritannien schwächer sein. Falls wir in der von Boris Johnson gewünschten Form eines verhandelten harten Brexit aus der EU scheiden, führt das zu einem Drittstaaten-Abkommen wie mit Kanada. Das ist eine massive Umstellung für die britische Wirtschaft. Diese Veränderung wird auch Auswirkungen auf Europa haben. Denn Großbritannien wird sich neu sortieren, es ist ein starkes Land. Wir werden uns zu einem äußerst attraktiven Ort für Investoren entwickeln müssen und sicherstellen müssen, dass wir den USA näher rücken und den europäischen Orbit eher verlassen. Die normale Dynamik eines harten Brexit wird zu einer Situation führen, in der wir mit Europa konkurrieren. Das wäre ein Problem.

Welche Form von Unterstützung wünschen Sie sich vom Kontinent?

Wir brauchen eine Sache von Europa: Geduld. Ich weiß, dass die sich dem Ende neigt, aber meine zentrale Botschaft lautet: Man kann nicht eine Entscheidung von solcher Bedeutung auf der Basis von Ungeduld treffen. Auf dem Gefühl, dass man genervt ist und genug hat. Ich verstehe diese Psychologie. Wäre ich im Moment Teil einer europäischen Regierung, wäre ich zutiefst frustriert. Aber nur mit einer rationalen Sicht kann dieser Brexit-Albtraum beendet werden. Vielen Staats- und Regierungschefs bereitet der Gedanke Sorgen, dass das Königreich bei einer erneuten Abstimmung für den Verbleib votiert und die EU dann ein kontinuierlich in der Europafrage gespaltenes Land in der Gemeinschaft mitträgt. Die Angst ist, dass dies das Europäische Projekt destabilisiert.

Ist diese Sorge nicht berechtigt?

Der Brexit ist weder im langfristigen, historischen Interesse von Europa noch von Großbritannien. Wir befinden uns im Endspiel. Falls es eine Fristverlängerung gibt, bin ich sicher, dass wir während dieser Zeit das Problem lösen werden, so oder so.

In welchem Maß haben Sie in Ihrer Amtszeit den Boden für den Brexit bereitet? Haben Sie als Premier etwas übersehen?

Europa war kein großes Thema. Sie können anführen, dass wir darauf verzichtet haben, für die neuen EU-Mitglieder eine Übergangsfrist bei der Personenfreizügigkeit zu verhängen. Aber die Leute vergessen, dass wir 2004 erstens die Arbeitskräfte brauchten und zweitens, dass die Personenfreizügigkeit von dem Moment an erfolgte, als Polen und die anderen Staaten der EU beigetreten sind. Doch egal, in welchem europäischen Land man die EU auf eine Weise auf die Agenda setzt, wie wir das 2016 getan haben, wird man ein Problem bekommen. Die Brexit-Entscheidung basiert auf dem Mythos, dass Europa unser Schicksal bestimmt, obwohl das in Wirklichkeit nicht stimmt.

Nun sind britische Premierminister nicht gerade als glühende Europäer aufgefallen. Auch jetzt werben Sie zwar für den EU-Verbleib, aber fordern Reformen. Wäre es nicht endlich an der Zeit, leidenschaftlich für Europa einzutreten?

Die Art von Reformen, über die wir reden, sind Reformen mit einer breiten Unterstützung in Europa. Die Personenfreizügigkeit ist das richtige Prinzip, aber die EU hat selbst eingesehen, dass sie Änderungen vornehmen musste wie etwa bei der Entsenderichtlinie, die das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes in der EU ausformuliert, weil diese Probleme bereiten kann. Es schadet nicht, wenn Europa sich anpasst. Außerdem sind es nicht nur die Briten, die in den letzten 30 Jahren Schwierigkeiten hatten. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Europäischer Integration und dem Nationalstaat. Diese Spannung gibt es in Frankreich, in Italien, überall in Europa.

Wie beurteilen Sie die ersten Wochen von Boris Johnson als Premier? Manche meinen, hinter seinen umstrittenen Aktionen stecke ein genialer Plan.

Das Genie muss an mir vorbeigegangen sein. Er hat nicht wirklich eine Strategie, außer jener, dass er sie täglich ändert. Johnson reitet auf dem Brexit-Tiger und dieser wird ihn hinführen, wohin auch immer der Tiger ihn bringt. Seiner Ansicht nach schadet es ihm, wenn er den Brexit nicht am 31. Oktober umsetzt, weil die Hardliner einen Austritt um jeden Preis als einzigen Ausweg sehen, die Sache hinter sich zu bringen. Aber er muss laut Gesetz eine Verschiebung der Austrittsfrist beantragen, das kann er nicht umgehen.

Johnson schließt das aus und fordert Neuwahlen.

Ja, aber er ist blockiert. Labour verweigert ihm Neuwahlen, meiner Meinung nach zurecht. Es ist das einzig Schlaue, das die Labour-Führung getan hat. Boris Johnson steckt im Moment in der Zwickmühle und wenn Labour smart ist, lassen sie ihn in der Falle.

Machen Sie sich Sorgen über den zunehmenden Populismus?

Selbstverständlich, überall in der westlichen Welt haben populistische Bewegungen die Politik verändert, aber die meisten dieser Populismus-Wellen sind an einen Kopf oder eine Regierung gebunden. Naturgemäß sind diese vergänglich, sie kommen und gehen. Das Problem mit Großbritannien ist, dass sich unsere populistische Welle auf ein politisches Konzept richtet, nämlich Brexit. Nur ist das keine Politik für einen Wahlzyklus, sondern eine für Generationen.

Was ist dem Populismus entgegenzusetzen?

Die technologische Revolution wird alles verändern. Das zu erkennen, ist der Schlüssel, um die Welt von heute zu verstehen und die wahre Herausforderung für Regierungen besteht darin, wie sie diese meistern. Bedauerlicherweise leben politische Entscheidungsträger und Changemakers – jene, die Veränderungen vorantreiben – auf zwei unterschiedlichen Planeten. Wir müssen sie zusammenbringen, weil uns diese technologische Revolution in Wirklichkeit enorme Möglichkeiten bietet. Nur erfordert das eine Neuausrichtung unserer gesamten Politik. Im Moment verstehen Politiker sie nicht genug und beschäftigen sich deshalb nicht damit, außer wenn es um die Regulierung von Big Tech geht.

Woran liegt das?

Schauen Sie auf die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Politik aufgeholt hat. Heutzutage spielt sich alles schneller ab, aber die Debatten über politische Strategien sind unbedeutend für die zentrale Frage dieser technologischen Revolution. Nehmen wir die Gesundheitsversorgung. In Großbritannien führen wir eine völlig traditionelle Diskussion. Gibt man etwas mehr Geld aus oder ein bisschen weniger? Tatsächlich muss die Frage lauten: Wie nutzen wir Technologie, um die medizinische Versorgung zu transformieren? Dasselbe gilt für andere Bereiche wie das Bildungs- oder Verkehrswesen.

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