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70 Jahre GrundgesetzSind Koran und Grundgesetz eigentlich kompatibel?

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Zwanderung

Symbolbild

  • In der Debatte um Zuwanderung wird seit Jahren um die Frage gestritten, ob Koran und Grundgesetz kompatibel seien.
  • Die Antwort gibt die Verfassung selbst.

Zuweilen ist selbst eine weiträumige Fläche wie der Bad Godesberger Theaterplatz klein genug, um gesellschaftliche Konflikte zu kanalisieren. Wenige Jahre ist es her, da verteilten radikalislamische Salafisten vor der Kulisse von Kammerspielen und Godesburg regelmäßig den Koran. "Lies!", so lautete ihre Botschaft, die beim näheren Hinsehen wenig Spielraum zuließ. Denn geht es nach den Fundamentalisten, so gibt es nur ein maßgebliches Gesetz für menschliches Handeln: die heilige Schrift des Islam. Doch auch am anderen Ende des Platzes wurde ein kostenloses Büchlein verteilt. Dort brachten junge Bonner Kommunalpolitiker von CDU, SPD und Grünen das Grundgesetz unters Volk.

In Tannenbusch hatte ihre Aktion zuvor des Schutzes durch die Polizei bedurft, weil Salafisten mit der Verbreitung der deutschen Verfassung in "ihrem" Viertel nicht einverstanden waren. Zwar stellen sie in ihrer frühmittelalterlichen Lesart des Koran nur eine extreme, kleine Minderheit unter Muslimen in Deutschland; doch auch abseits dieser Randerscheinung ist die Debatte um die Vereinbarkeit von Islam und an westlichen Werten orientierten Verfassungen wie dem Grundgesetz in nahezu allen europäischen Staaten ein gesellschaftspolitischer Dauerbrenner, der in den vergangenen Jahren weder an Temperatur, noch an Dialektik und Komplexität verloren hat. Gewonnen hat sie dafür an Tempo. So verbreitete der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans vom Berliner Wissenschaftszentrum im Zuge der jüngsten Migrantenströme die These, dass rund vierzig Prozent der muslimischen Einwanderer nach Westeuropa fundamentalistisch eingestellt seien. Während Sprachkurse für Flüchtlinge, ihre interkulturelle Kompetenz und die Integration in den Arbeitsmarkt in der öffentlichen Betrachtung großen Raum einnehmen, scheint die Vermittlung von Grundwerten und Gesetzen eher ein Schattendasein zu führen. Zugleich gewinnen populistische Parteien in nahezu allen europäischen Ländern an Zulauf.

Bei Einbürgerung Rechte und Pflichten

Neu sind diese Themen nicht. Der Begriff der Massenzuwanderung war noch nicht erfunden, da forderte vor rund 15 Jahren der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), einen Eid auf das Grundgesetz zur Bedingung für die Einbürgerung von Ausländern zu machen, wie dies in anderen Staaten selbstverständlich sei. SPD und Grüne lehnten die Idee ab. Ihre Begründung: Ausländer müssten sich wie Deutsche ohnehin an die Verfassung halten, ob sie nun schwören oder nicht. In Bonn beispielsweise erhalten Einwanderer bei einem kleinen Festakt neben ihrer Einbürgerungsurkunde auch ein Grundgesetz. Und nicht selten bei diesen Anlässen im Alten Rathaus verweisen Oberbürgermeister oder gar ein Vertreter der Landesregierung darauf, dass mit der Einbürgerung Rechte, aber auch Pflichten verbunden seien.

Kaum zusammenzupassen scheint das damit, wenn der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan seinen Landsleuten in Deutschland wie 2008 in der Kölnarena zuruft: "Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!". Dass er die Türken in Deutschland, darunter viele Doppelstaatler, im gleichen Atemzug dazu aufrief, sich zu integrieren, an die Spitze der Gesellschaft zu streben und politischen Einfluss zu nehmen - es wurde im Nachgang von den wenigsten Deutschen als gangbare und vertrauensvolle Brücke wahrgenommen.

Mitschuld der politisch-korrekten Verklemmtheit

Ein deutliches Stimmungsbild ergab sich hingegen schnell, als der deutsche Fußball-Nationalspieler Mesut Özil im vergangenen Jahr fröhlich für ein Foto mit Erdogan posierte, inklusive ehrenbezeugender Widmung für "seinen" Präsidenten. Erdogans Auftritte sind nicht die einzigen Gelegenheiten, bei denen der Traum von einem "westlichen Islam" einmal mehr in weite Ferne rück. Der Islamwissenschaftler und Publizist Bassam Tibi brachte vor einigen Jahren zwei Begriffe in die Einwanderungsdebatte ein: die Leitkultur als Frucht der europäischen Aufklärung und den "Euro-Islam", mittels dessen Migranten in Europa zu anerkannten Citoyens einer Zivilgesellschaft werden können. Der "Spiegel" betitelte einen Bericht über seine Gedanken mit den Worten "Operation Sauerkraut" - für Tibi ein Symptom für mangelnde zivilisierte Debattenkultur. Man sei "ohne die geringste Chance, inhaltlich zu diskutieren, weil Meinungsmacher Andersdenkende nicht wahrnehmen", sagt Tibi. Sofern seine Theorie stimmt, tragen beileibe nicht nur zugewanderte "Integrationsverweigerer" die Schuld an entstehenden Parallelgesellschaften, sondern mindestens ebenso eine politisch-korrekte Verklemmtheit seitens der politischen und publizistischen Echokammern. Als der frühere Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Deutsche Islamkonferenz ins Leben rief, gab auch er das Ziel aus, "zur Entwicklung eines modernen deutschen Islam beizutragen". Für manchen korantreuen Türken war dies bereits Provokation genug. Eine populäre Internetseite kategorisierte deutsche Politiker prompt als "Kuffar" (Ungläubige) und startete eine Kampagne: "Wir Muslime sagen Nein zum deutschen Islam."

Das würde vermutlich sogar Thilo Sarrazin unterschreiben. Sein Standpunkt jedoch, erst kürzlich vorgetragen in der Bad Godesberger Stadthalle, stellt eher den Gegenpol dar: Der Koran vermittle Hass auf "Ungläubige", sei von expansiver Eroberungskraft geprägt, pflege einen Unterwerfungsgedanken, hemme dadurch technologische und wissenschaftliche Neugier und etabliere ein "hierarchisches Verhältnis der Geschlechter", so in Kurzform Sarrazins Thesen. Doch der Chor ist vielstimmiger als die Bücher des ehemaligen Bundesbank-Vorstands. So klärt etwa der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) sein Verhältnis zum deutschen Staat seit 2002 in seiner Islamischen Charta. Sie sei "Angebot und Verpflichtung unserem Staat und unserer Gesellschaft gegenüber", so der ZMD, der sich "mit Wort und Tat" zur Gewähr der Rechtstreue bekennt. Und nicht zuletzt der Leiter einer Bonner Moscheegemeinde, welcher der Verfassungsschutz Verbindungen zur Muslimbruderschaft zuschreibt, legte kürzlich im Gespräch mit dem General-Anzeiger Wert auf die Feststellung, in den Predigten werde stets "zum Respekt vor Recht und Gesetz und zur Dankbarkeit gegenüber Deutschland" aufgerufen.

Dankbarkeit gegenüber Deutschland also, dessen Verfassung gleich zu Beginn doch so wenig integrativ feststellt, "das deutsche Volk" habe sich "kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" (Präambel) und "das deutsche Volk" bekenne sich "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" (Artikel 1 Absatz 2). Universell ist hingegen ein Großteil der Grundrechte formuliert, die damit für jedermann gelten. Hierin liegt mitunter auch die Schwierigkeit, explizit von Zuwanderern ein "Bekenntnis" zum freiheitlich-demokratischen Staat oder gar eine Begeisterung für Menschen- und Bürgerrechte einzufordern. Auch viele alteingesessene Deutsche haben ein durchwachsenes Verhältnis zu Freiheit und Gleichberechtigung - und das, obwohl ihnen diese Werte seit frühester Kindheit vermittelt wurden. So darf beispielsweise jedermann - egal ob Deutscher, Zuwanderer oder Ausländer - den demokratischen Verfassungsstaat nach Herzenslust ablehnen und dies wegen Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes (Meinungs- und Redefreiheit) auch öffentlich sagen. In der Unterscheidung von Recht und Moral, einem Artefakt der Aufklärung, wird Voltaire der Satz zugeschrieben: "Mein Herr, ich mag verdammen, was Sie sagen. Aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie es äußern dürfen!"

Die Konsequenz mag für manchen schwer zu tolerieren sein. Doch analog dazu hat jeder in Deutschland lebende Muslim (und auch jeder deutsche Christ) grundsätzlich das Recht, Frauen in seinen Augen und entgegen dem Gleichheitsgrundsatz als Menschen zweiter Klasse zu betrachten. Beachten muss er dabei "lediglich" die allgemeinen Gesetze wie das Strafgesetzbuch und das Recht der persönlichen Ehre (Artikel 5 Absatz 2 GG). Er darf also seine Frau, Tochter oder Schwester nicht beleidigen, verletzen oder töten. Zwar haben erste deutsche Gerichte beispielsweise im Ausland geschlossene Mehrehen familienrechtlich akzeptiert. Insgesamt aber dürften an der Inkompatibilität von Grundgesetz und Scharia wenig Zweifel bestehen. Am Rechtsgefüge verläuft somit die äußerste Schnittkante der Integration. Unumwunden bringt es - etwa mit Blick auf die Religionsfreiheit - das Grundgesetz selbst auf den Punkt. Artikel 18: "Wer [Rechte wie] das Asylrecht zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte."

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