Wie Weggefährten Andrea Nahles erlebten„Sie konnte schon ganz schön nerven“

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Die Juso-Vorsitzende Andrea Nahles beim Jugendparteitag der SPD im November 1996 in Köln mit Parteichef Oskar Lafontaine (links) und dem nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement.

Am 22. April wird Fraktionschefin Andrea Nahles aller Voraussicht nach zur Parteivorsitzenden gewählt. Die ehemalige Juso-Chefin, Generalsekretärin und Arbeitsministerin ist die erste Frau in diesem Amt. Wo kommt die 47-Jährige, die ihren Wahlkreis in Ahrweiler hat, her - politisch und regional?

Wer nach Weiler kommt, sucht nicht die große, weite Welt. Felder und Wiesen liegen um den Ort herum, dahinter beginnt der Wald. Siggi Hüyng ist einer der rund 350 Menschen, die hier am südöstlichen Rand der Eifel zu Hause sind. "Es gibt viel Ruhe, die Kirche, die Grundschule, eine Reithalle, ein bisschen Kleinindustrie und zwei Kneipen", sagt der 50-Jährige. Und es gibt Andrea Nahles. Ihre Familie stammt von hier, sie ist hier aufgewachsen, vor Jahren hat sie einen alten Bauernhof geerbt und umgebaut. Dort wohnt sie noch immer - wenn sie nicht gerade in Berlin die SPD-Fraktion führt und bald wohl auch die Partei leiten wird. In Weiler sind sie stolz auf "ihre Andrea".

Freitagabend in der Kneipe "Zum Kirjässer": Holzscheite lodern im Kamin, die paar Tische aber liegen im Dunkeln, denn die Gäste sitzen an der Theke. "Dass man es aus einem so kleinen Dorf so weit nach oben schafft, ist schon toll", sagt Peter Hamacher. "Dabei ist sie ganz normal geblieben", meint Wirtin Brigitte Hamacher, "sie bleibt auf der Straße bei jedem stehen und fragt, wie es geht. Sie ist einfach umgänglich." Ein größeres Lob gibt es hier wahrscheinlich nicht.

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SPD-Ortsverein im Gasthaus gegründet

Siggi Hüyng hat eine besondere Beziehung zu Nahles. Am 9. März 1989 gründeten die beiden mit drei Freunden im Gasthaus Thelen einen SPD-Ortsverein - "unter erheblichem Protest der Eltern", wie sich Siggi erinnert. Die waren eingefleischte CDU-Wähler. Bis dahin erzielten die Schwarzen stets über 80 Prozent. Doch das stachelte die jungen Leute, alle um die 20, an. "Wir wollten ein Gegengewicht bilden", sagt Siggi.

Peter Hamacher verlässt seinen Platz und sagt nur kurz: "Ich geh mal den Reiner holen, der kann noch viel mehr erzählen." Ein paar Minuten später steht Reiner Hermann an der Theke, auch er einer der Verschworenen vom März 89. Ohne Andrea, die schon ein halbes Jahr früher in die SPD eingetreten war, hätten sie den Ortsverein nicht gegründet. "Sie war der Motor." Die beiden sind schon zusammen in die Grundschule in Weiler und bis zur zehnten Klasse zur Realschule in Mayen gegangen. "Sie war eine gute Schulkameradin", sagt Reiner, "schon immer hatte sie ein großes soziales Herz."

Und wie kam es zur Vorliebe für die SPD? "Das hat mit unserem Geschichtslehrer Helmut Kollig aus Kottenheim zu tun. Er hat uns viel über das Dritte Reich erklärt und dass die SPD die einzige Partei war, die Widerstand geleistet hat. Das hat Spuren hinterlassen", erzählt Reiner. Doch statt die große Politik verändern zu wollen, in einer Zeit, als in Bonn Helmut Kohl regierte, befassten sich die jungen Genossen mit - Joghurt. "Wir haben die Aluminiumdeckel gesammelt, zum Schrotthändler gebracht und ein bisschen Geld für einen guten Zweck eingenommen", weiß Siggi. "Andrea hatte auch eine Umweltfibel geschrieben. Sie hat sich sehr für den Umweltschutz eingesetzt." Bei der nächsten Wahl schafften es Andrea und Reiner auch gleich in den Gemeinderat.

Thema Umwelt nicht den Grünen überlassen

Doch das Engagement in Weiler allein reichte der Jungpolitikerin Nahles nicht. So protestierte sie in vorderster Reihe gegen die geplanten Müllöfen im Kreis Mayen-Koblenz. Ein paar Jahre später kippte sie bei einer Veranstaltung mit der rheinland-pfälzischen Umweltministerin Klaudia Martini einen Berg Plastik vor die Halle. "Für die Andrea war klar: Das Thema Umwelt darf man nicht den Grünen überlassen", sagt Hans-Dieter Gassen. Der 74-Jährige, heute noch Ortsbürgermeister in Brey am Rhein, gilt als politischer Ziehvater von ihr.

Damals in den 80er und 90er Jahren war er SPD-Kreisvorsitzender in Mayen-Koblenz und führte die Kreistagsfraktion an. Und lernte in diesen Funktionen auch eine andere Andrea Nahles kennen. "Wir wollten 1989 eine große Koalition mit der CDU bilden", beginnt Gassen einen Satz und muss schmunzeln. Wie vor wenigen Wochen die Bundes-Jusos um Kevin Kühnert, so führten damals in wesentlich kleinerem Rahmen die Kreis-Jusos um Nahles den Widerstand an. "Sie konnte schon ganz schön nerven und hat uns öfter vors Schienbein getreten, aber das war auszuhalten."

Schon damals ihren eigenen Kopf

Gassen erinnert sich an Diskussionen um die Verschärfung des Asylrechts zu Beginn der 90er Jahre. Damals waren Hunderttausende aus Jugoslawien gekommen. Die SPD sei durchaus zu Korrekturen am Asylrecht bereit gewesen. Nahles habe diese aber strikt abgelehnt und mit viel Energie versucht, andere für ihre Position zu gewinnen. Sie mit Worten zu überzeugen, sei nicht einfach gewesen. "Appelle haben bei ihr nichts gebracht, weil sie schon damals ihren eigenen Kopf hatte", sagt Gassen. Wenn aber eine Entscheidung gefallen sei, habe sie diese loyal mitgetragen und sich nicht vom Acker gemacht. "Da war sie mir hundertmal lieber als ein Angepasster, der zu allem Ja sagt." Schon damals sei ihr großes politisches Talent erkennbar gewesen.

Und sie hatte Ehrgeiz. Bei den Jusos stieg sie schnell auf. 1992 - mittlerweile studierte sie Germanistik und Politikwissenschaft in Bonn - wurde sie stellvertretende Landesvorsitzende, ein Jahr später Landeschefin und 1995 Juso-Bundesvorsitzende. Und machte einen Fehler, der ihr in ihrem rheinland-pfälzischen SPD-Landesverband lange nachgetragen wurde. Gassen war beim Parteitag in Mannheim dabei, als sich Parteichef Rudolf Scharping um eine neue Amtszeit bewarb, aber von seinem Vize Oskar Lafontaine gestürzt wurde.

"Andrea sprang auf und jubelte, als Oskar gewonnen hatte." Sie war der Meinung, dass Lafontaine die SPD besser führen könne. Für die rheinland-pfälzischen Delegierten ein Unding, denn mit Scharping an der Spitze hatte die Landes-SPD erst vier Jahre zuvor die jahrzehntelange Vorherrschaft der CDU gebrochen. "Ich hab ihr gleich gesagt: Das wird dir noch lange nachgetragen", sagt Gassen. Und tatsächlich: Wenn es um Wahlen zu Parteigremien ging oder die Aufstellung von Landeslisten, erzielte Nahles stets mit die schlechtesten Ergebnisse. So verpasste sie 2002 wegen eines ungünstigen Listenplatzes auch den Wiedereinzug in den Bundestag.

Als Teenager im Bundestag 

Marc Ruland lernte Nahles als Teenager im Bundestag kennen, als er mit seiner Andernacher Schulklasse die Abgeordnete besuchte - und war beeindruckt. "Meine Mitschüler und ich waren überrascht, dass sie so redete wie wir. Sie war halt eine 'von uns'", erinnert er sich an die erste Begegnung. Ruland wurde Genosse und machte seitdem viel Wahlkampf für und mit Nahles. "Sie hat uns jungen Leuten immer das Gefühl gegeben: 'Es ist toll, was ihr macht und ich bin dankbar, dass ihr dabei seid'."

Heute ist Marc Ruland 36, Landtagsabgeordneter in Mainz, und in Andernach teilt er sich das Bürgerbüro mit Nahles. Im Blick auf die Wahl zur Parteichefin ist er zuversichtlich, dass sie die SPD einen kann. "Niemand anderes kennt die Partei auf all ihren Ebenen so gut."

Wenn es nach Hans-Dieter Gassen, ihrem politischen Ziehvater, geht, muss sie als Vorsitzende vor allem Disziplin und Loyalität einfordern und den Parteigrößen beibringen, "dass die nicht in jedes Mikrofon reinbeißen müssen". Dafür habe sie ja aber vor Ort "gewisse Dinge gelernt", meint er.

Und was ist mit ihrem Ziel, das sie 1989 in ihrer Abiturzeitung notiert hatte: Hausfrau oder Bundeskanzlerin? Für Wirtin Brigitte Hamacher gibt es bei den politischen Ambitionen von Nahles ein Problem: "Das wird nichts, wenn sie weiter redet wie Flatsch Mattes." Flatsch Wie? Siggi Hüyng erklärt: "Wenn sie weiter redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Da kann man im Bundestag nichts werden." Schulfreund Reiner Hermann sieht das anders: "Sie hat als Arbeitsministerin viel geschafft. Das ist leider etwas untergegangen." Er nennt die Einführung des Mindestlohns und die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren. Das klingt wie: keine schlechte Bewerbung für ein noch höheres Amt als den SPD-Vorsitz.

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