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„Alle kurz vorm Kollaps“Protokoll einer Mutter mit drei Kindern im Homeschooling

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An den Aufgaben sitzen wir mit den Kindern bis abends, auch weil wir nicht alle Drei parallel begleiten können.

Köln – „Warum setzt ihr Kinder in die Welt, wenn ihr euch dann nicht drum kümmern wollt?“ Das ist die Frage, die gerade unter quasi jedem Lockdown-Text aus Elternhand gestellt wird. Im verlängerten Lockdown mit Schul- und Kitaschließungen gehen Mütter und Väter abermals über ihre Grenzen. Ob sie wirklich selbst schuld sind? Vielleicht sollten wir mal von einem Standardtag im erneuten Lockdown erzählen. Von uns als Elternpaar, bei dem der Vater durch Systemrelevanz oft noch außer Haus arbeitet. Und bei denen die selbstständig arbeitende Mutter mit drei hungrigen Teenagern im Alter von vierzehneinhalb und zweimal zwölfeinhalb im Homeoffice zurückbleibt.

Kinder in Pandemiezeiten: der Wahnsinn, was sie leisten!

Mit Kindern, die sich in einer Lebensphase befinden, in der vor allem der Freundeskreis wichtig ist, in der sie sich abnabeln und möglichst wenig Zeit zu Hause verbringen wollen, in der die Eltern nerven und „mal chillen“ sollen.

Stattdessen sitzen sie zu Hause in einer Situation, in der alle Pflichten geblieben sind – der Spaß aber nicht. Die Schule ist eben vor allem auch ein sozialer Ort. Diverse Lehrer, Ansprachen, Räume und Menschen. Immerhin haben unsere Drei noch eine Mutter im Homeoffice als Helferin.

Homeschooling + Homeworking = Homezusammenbreching

Wir Eltern versuchen, so gut es geht, aufzufangen. Zu trösten. Zu motivieren. Blitzableiter zu spielen. Das bedeutet viel Extra-Fürsorge, nicht aber, dass wir unsere Kinder bereuen würden. Warum auch? Die Pandemie kam unvorhergesehen, das System funktionierte doch bislang. Nun bricht es zusammen.

Wir müssen wieder alles gleichzeitig schaffen. Unsere Kinder durch Mathe, Deutsch und Englisch begleiten und währenddessen unsere Jobs erledigen. Keine Arbeit bedeutet in meinem Fall: kein Geld.

Nur Pflicht, keine Kür: Die Familien-Harmonie bröckelt

Während ich das hier schreibe, wird also neben mir in einer Zoom-Konferenz das Balzverhalten von Hühnern besprochen. „Wie oft muss der Hahn die Henne begatten?“ tönt es aus der Küche. Aus dem Kinderzimmer ruft´s: „Maaaama, was ist heißt denn Trochäus und Jambus?“ Gleichzeitig klingelt mein Telefon. „Mach ich halt ALLES alleine“, motzt das Kind. Ich kann mich doch nicht zerreißen.

Es geht auf die Beziehung. Als Eltern sind wir jetzt die Bedroher ihrer Freizeit. Es liegt an uns, ihnen ihre Zeit einzuteilen, sie immer wieder an die Aufgaben zu bitten. „Nein, nicht TikTok schauen jetzt, Deutsch ist dran!“ – „Tschuldigung, dass ich geboren bin!“

So sehr wir uns auch bemühen, ihnen die binomischen Formeln zu erklären, ihnen chemische Prozesse wie Cracking zu erklären, gemeinsam Youtube-Erklärvideos rauszusuchen und CO2-Emissionen auf Englisch zu beschreiben – genügen können wir nie. So fühlt es sich jedenfalls an.

Freundinnen mit mehreren Kindern berichten mir, dass sie bereits bei der Frage „Wie geht's dir?“ in Tränen ausbrechen. Es ist zu viel. Das Hamsterrad macht keine Pause.

Ohne Hilfe ist Schule zu Hause nicht möglich

An den Aufgaben sitzen wir mit den Kindern bis abends, auch weil wir nicht alle Drei parallel begleiten können. Zwischendurch bittet der Fußballtrainer um Fitnessbeweise und ein Kieferorthopäden-Termin steht auch noch an. Die Tage ziehen sich wie Kaugummi.

Helfe ich genug? Helfe ich zu wenig? Wie viel Eingreifen ist sinnvoll, wie viel Autorität? Der Kopf glüht rund um die Uhr, die Nächte sind unruhig, weil dauernd aufblitzt, was wir alles vergessen oder nicht geschafft haben. Bin ich genug? Dürfen sie mich am Abend vor Erschöpfung weinen sehen? Bin ich nicht wieder zu laut geworden, als sie getrödelt haben? Liegen nicht alle Nerven gerade blank?

Eltern als Rund-um-die-Uhr-Bedürfnisbefriedigungsmaschinen

Natürlich braucht ein Sechstklässler noch Hilfe, wenn er für Geschichte einen Podcast aufnehmen soll. Recherchieren, Text schreiben, ihn einsprechen, Mist, verhaspelt, nochmal. Und dann das Ganze schneiden, Jingles einfügen und hochladen. Endlich mal etwas, an dem sie Spaß haben. Einzig: Sie brauchen nicht 90 Minuten wie geplant, sondern einen halben Tag. Also schieben wir die Hauptfächer wieder in den Nachmittag. Es hört nie auf.

Immerhin entwickele ich mittlerweile eine nie dagewesene Vorliebe für Mathe. Denn in diesem Fach gibt´s keine Diskussionen. Aufgabe, Ergebnis. Fertig. Bei Deutsch ist das anders. Lass ich Ein-Satz-Antworten durchgehen oder sage ich etwas – auch auf die Gefahr hin, dass dann die Lage eskaliert? Tagesformabhängig. Meist fehlt mir die Kraft.

Schule zu Hause: Es braucht Struktur

Es gibt Eltern, die sich eine App mit Schul-Gong auf ihr Handy geladen haben, um den Tag besser zu strukturieren. Das Problem ist ja auch: Zu vielen Familien passt das hierarchisch aufgebaute Schulsystem nicht mehr, sie erziehen auf Augenhöhe und bauen auf Verständnis statt auf Frontalbeschulung.

Zudem fehlt im Lockdown die Gruppendynamik der Klasse, es werden persönliche Kämpfe mit den Eltern ausgefochten und Grenzen ausgetestet. Es belastet die Familien-Harmonie, wir leben auf einem brodelnden Vulkan. „Ich hätte so gern mein Zuhause als Ort zum Chillen zurück“, sagt mir der Sohn. Und ich verstehe ihn nur zu gut.

Der Druck ist hoch, der Lehrplan wird durchgezogen

Wie gern würde auch ich einfach mal wieder ununterbrochen einen Text schreiben – ohne Geschwisterstreitschlichtung, ohne Hungerattacken, ohne Zwischenrufe und Nachfragen. Die Ruhe hierfür musste ich mir teuer mit Extra-Playstation-Minuten erkaufen. Ich bin einfach nie mehr allein oder ungestört!

Und so sehr sich die Umstände durch die Schulschließung geändert haben, so wenig wird vom Lehrplan abgerückt. Es gibt Aufgaben in mindestens zehn Fächern pro Kind, auch in Sport, Kunst und Musik. Um aus all den pdfs und docs einen Wochenplan mit Abgaben und Konferenzen zusammenzustellen, um alles auszudrucken, brauche ich über eine Stunde. Und anders als im letzten Lockdown ist es diesmal notenrelevant. Der Druck ist groß, er entlädt sich an uns Eltern.

Eltern kurz vorm Kollaps: Es ist zu viel

„Ich bin kurz vorm Kollaps“, schreibt mir eine Freundin. Wenigstens geht es allen so, denke ich zunächst. Und dann: Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass hier eine ganze Elterngeneration in die Knie geht. Wie lang soll das noch so weitergehen?

Fassen wir also zusammen: Der Vorwurf „Hättest du halt keine Kinder bekommen“ ist obsolet, denn nicht die Kinder überfordern uns, sondern die Umstände! Die, die verlangen, dass wir neben all den anderen Rollen auch noch die der Lehrperson übernehmen. Das ist ja fast so, als schickte uns der Bauingenieur Anweisungen und wir müssten ein Haus bauen. Kein Wunder, wenn es einkracht…

Wer ist schuld an unserer Überforderung?

Schuld an unserer Überforderung sind also nicht die Kinder – die das meisterhaft machen. Schuld sind nicht die Lehrkräfte, die sich grad ein Bein ausreißen für unsere Kleinen. Schuld sind nicht die Eltern – die kaum noch ihren Vornamen buchstabieren können vor Überforderung. Schuld ist dieses gottverdammte Virus namens Corona.

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Natürlich hätten wir uns an den Schulen früher um Digitalisierung kümmern können und es wäre toll, den Notendruck auszusetzen oder zumindest die Nebenfächer pausieren zu lassen. Selbst dann wäre es aber noch anstrengend. Das Virus muss also weg. Es muss unter Kontrolle gebracht werden. Dann können wir wieder aufatmen. Allesamt.

Bis dahin suche ich einen Baumarkt, der geöffnet hat, denn die neue Kunstaufgabe verlangt Material.

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