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„Gefahr für die Allgemeinheit“Kinderpsychiater Michael Winterhoff gibt Praxis auf

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Dr. Michael Winterhoff bei der Frankfurter Buchmesse 2015. 

Köln – Es klingt wie eine normale Ankündigung, doch für viele Menschen dürften diese Sätze viel mehr bedeuten, als sie auf den ersten Blick aussagen: Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff aus Bonn wird zum 10. Dezember 2021 seine Praxis schließen, teilt er auf seiner Homepage mit. Winterhoff, der Anfang Januar 67 Jahre alt wird, will in Rente gehen. „Da ich nun schon eine Weile das Rentenalter erreicht habe, ist es an der Zeit, jüngeren Kollegen Platz zu machen und den Ruhestand anzutreten“, schreibt er und dankt seinen Patienten für das entgegengebrachte Vertrauen und die gute Zusammenarbeit in den vergangenen 33 Jahren.

Kinder und Jugendliche haben sedierendes Mittel erhalten

Es wird mit Sicherheit einige Patienten geben, die die Zusammenarbeit mit ihm nicht als gut und vertrauensvoll bezeichnen. Im Film „Warum Kinder keine Tyrannen sind. Das System von Dr. Winterhoff“ (hier können Sie den Film ansehen) wird der Psychiater mit dem Vorwurf konfrontiert, zahlreichen Kindern und Jugendlichen das Neuroleptikum Pipamperon verschrieben zu haben. Das sedierende Mittel ist auch als Dipiperon bekannt und werde normalerweise nur in akuten Erregungszuständen eingesetzt, wie verschiedene befragte Kinderpsychiater im Film konstatieren. Winterhoffs Patienten hätten das Mittel aber teilweise über Jahre bekommen und berichten im Film von schweren Nebenwirkungen wie Apathie und starker Gewichtszunahme. Außerdem geben einige Eltern an, keine Einwilligung zur Medikation erteilt zu haben.

Nach dem Film haben sich viele weitere Betroffene gemeldet

Reporter von WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) sprachen für den Film in einer gemeinsamen Recherche mit mehr als 20 ehemaligen Patienten aus Winterhoffs Bonner Praxis und verschiedenen Jugendeinrichtungen, die er medizinisch beriet. Seit der Erstausstrahlung im August hätten sich viele weitere Betroffene gemeldet, sagt Nicole Rosenbach, die Autorin des Films.

Auch beim Siegburger Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler trudeln täglich neue Mails von Menschen ein, die bei Winterhoff in Behandlung waren oder in einer von ihm medizinisch betreuten Einrichtung lebten und Medikamente erhielten. „Mittlerweile haben sich so viele Betroffene gemeldet, dass ich sie nicht mehr alle selbst vertreten kann und an Kollegen weiter empfehlen muss“, sagt Daimagüler. Sofern die Fälle noch nicht verjährt sind, erstattet er bei der Staatsanwaltschaft Bonn Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen Michael Winterhoff. Er sagt: „In vielen Fällen ist die Zustimmung zur Medikamentengabe nicht erteilt worden. Selbst wenn die Eltern davon wussten, fehlte häufig eine umfassende Aufklärung.“

Winterhoff teilte zu den Vorwürfen über seinen Presseanwalt Carsten Brennecke mit, dass Pipamperon ausschließlich in einer Dosierung eingesetzt worden sei, die zu keiner Sedierung führe. Ebenso sei das Medikament nicht flächendeckend, sondern nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet worden. (Die Einzelheiten zu den Vorwürfen aus dem Film können Sie hier nachlesen.)

Medikamentenlisten lassen vermuten, dass die Mittel massenhaft eingesetzt wurden

Neue Recherchen von WDR und SZ legen den Verdacht nahe, dass Pipamperon und ähnliche Mittel nicht in Einzelfällen, sondern massenhaft gegeben wurden. So seien dutzende Medikamentenlisten aus verschiedenen Einrichtungen aufgetaucht, die mit Winterhoff kooperierten, zum Beispiel aus dem Leo-Lionni-Haus Lantershausen in Grafschaft bei Bad Neuenahr-Ahrweiler. Die Listen dokumentierten die Zeit zwischen 2010 und 2014 und zeigten, dass nahezu alle in der Einrichtung betreuten Kinder verschiedene Medikamente erhielten, darunter auch Risperdal, ein Neuroleptikum wie Pipamperon oder Dipiperon.

Michael Winterhoff teilt dazu über seinen Anwalt mit, dass das Medikament Pipamperon ebenso wie andere verordnete Medikamente für Kinder mit psychomotorischen Erregungszuständen zugelassen sei. Weiter heißt es: „Sofern unser Mandant Medikamente verordnet hat, erfolgte dies für jedes einzelne Medikament stets, nachdem in einer Untersuchung und Einzelfallentscheidung durch unseren Mandanten sowie sein Team aus mehreren Diplom-Heilpädagoginnen unter Einbeziehung des Bezugserziehers, des Erzieherteams und evtl. der Heimleitung sowie der Eltern oder des Vormundes festgestellt wurde, dass bzgl. des Kindes eine entsprechende Indikation vorlag. Die Verordnung von Medikamenten erfolgte selbstverständlich nie isoliert; vielmehr war diese eingebettet in eine umfassende Behandlung, bestehend aus regelmäßigen Untersuchungen und Therapiegesprächen entweder vor Ort oder in der Praxis unseres Mandanten. Bei Bedarf erfolgte selbstverständlich ein einzeltherapeutisches Angebot.“

Auch die 33-jährige Janina H. aus Langenfeld gibt an, als 13-Jährige in der damals von Winterhoff betreuten Jugendhilfeeinrichtung „Heidehaus“ in Breitscheid Dipiperon erhalten zu haben. „Das war das erste Mal, dass ich Tabletten bekam. Meine Mutter kann sich nicht daran erinnern, darin eingewilligt zu haben, aber natürlich kann auch sie etwas vergessen“, sagt H. In der Einrichtung hätten alle Pillen nehmen müssen, entweder Ritalin oder Dipiperon. „Wir mussten die Tabletten immer im Büro nehmen und hinterher den Mund öffnen, um zu beweisen, dass wir sie runtergeschluckt haben“, erinnert sie sich. 

Winterhoff gibt zu Janina H. keine Stellungnahme ab, da er den Anwälten zufolge nur zu konkreten Sachverhalten antworten darf, wenn ihm eine Schweigepflichtentbindung vorgelegt wird. „Unabhängig davon hält unser Mandant es nicht für sinnvoll, Einzelheiten der Krankengeschichte (vormals) schwer traumatisierter Kinder in der Öffentlichkeit auszubreiten und damit ggf. Traumata zu reaktivieren“, heißt es weiter.

Janina H. hat zum Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme bereits mehrere Stationen in Jugendhilfeeinrichtungen, Wohngruppen und bei Kinderpsychologen hinter sich. Auch in Winterhoffs Praxis in Bonn ist sie als Kind kurz gewesen, kann sich aber nur an zwei kurze, monotone Gespräche erinnern. Sie gilt als schwer erziehbar, die Mutter ist mit ihr überfordert. H. erinnert sich daran, dass die Pillen bei ihr vor allem gegen Aggressionen und Wutausbrüche helfen sollten. Ob sie das wirklich taten, bezweifelt sie: „Ich war nicht mehr ganz so aggressiv wie davor, aber immer noch wütend. Nur, weil jemand irgendwas verabreicht kriegt, heißt das ja nicht, dass dadurch sein Seelenheil verbessert wird.“

„Die Jugendämter winken alles durch“

Nach einem halben Jahr beschließt sie, die Pillen nicht mehr zu nehmen und muss kurze Zeit später – aus anderen Gründen – die Einrichtung verlassen: „Ich habe mich einfach nicht bändigen lassen.“ Sie zieht zurück zu ihrer Mutter und mit 17 schließlich endgültig aus und mit ihrem jetzigen Mann zusammen nach Langenfeld. Hier arbeitet sie als Bürokauffrau und hat eine Tochter. Kontakt zu Michael Winterhoff hat sie seit ihrer Jugend nie mehr gehabt, auch den Film hat sie bisher nicht gesehen. „Ich kann das einfach nicht. Ich hege so viel Groll gegen so viele Menschen, ich glaube, dann würde ich ausflippen. Ich habe das Thema bisher einfach verdrängt.“ Dass Winterhoff zum 10. Dezember seine Praxis aufgibt, macht sie mehr als glücklich: „Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich darüber bin. Ich werde auf jeden Fall besser schlafen können. Dieser Mann ist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Man darf aber dennoch nicht vergessen, dass auch manche Eltern und vor allem die Jugendämter mit schuld sind. Die sind die schlimmsten, die winken das alles durch.“

Wie viel Verantwortung die Jugendämter für das Leid der Kinder trugen, versuchen auch die Reporter von WDR und SZ zu beantworten. Die Jugendämter berufen sich demnach auf die gültige Betriebserlaubnis der Einrichtungen, die mit Winterhoff kooperierten. Diese werde vom Landesjugendamt erteilt, dem wiederum „die Beurteilung der ärztlichen Qualifikation und die Verordnung von Medikamenten“ nicht zustehe, wie die SZ das Familienministerium Nordrhein-Westfalen zitiert. Für die Behandlung der Kinder seien Eltern und Sorgeberechtigte zuständig sowie die Ärzte, die von der Ärztekammer beaufsichtigt würden. 

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