„Wozu lernen wir das?“Lehrer beantwortet die Frage, die sich alle Schüler stellen

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Viele Schüler fragen sich: Warum nur soll ich das alles wissen?

  • Schüler gestern wie heute fragen sich immer wieder: Müssen wir das wirklich alles in der Schule lernen?
  • Lehrer Thomas Kiechle erklärt, warum er vieles aus seiner Schulzeit auch heute noch gebrauchen kann.
  • Und wie Unterricht auch mit breitem Lehrstoff lebensnah und spannend sein kann.

Köln – Kennen Sie noch dieses Gefühl, in Mathe zu sitzen und sich zu fragen, warum man dieses komplizierte Zeug lernen soll? Diesen Unmut, sich in Gedichtinterpretationen, Chemie-Formeln oder Landkarten reinzudenken?

Auch wenn der Alltag von Schülern heute anders aussieht als der früherer Generationen, gibt es sie auch heute noch, diese typischen Schülererfahrungen. Wie etwa die über allem schwebende Frage, die man sich als junger Mensch fast verzweifelt stellt, wenn man wieder mal für eine Arbeit pauken muss: Wozu lernen wir das eigentlich alles? Was bringt mir das für mein Leben?

Lernen wir hier wirklich fürs Leben?

Auch unsere 16-jährige Schülerpraktikantin Anna Sophie Schneider macht sich Gedanken darüber, warum manche Dinge in der Schule bloß gelehrt und gelernt werden müssen. Wir haben ihre Fragen direkt an jemanden weitergegeben, der es wissen muss: Thomas Kiechle unterrichtet Geschichte, Mathematik und Sozialwissenschaften an einem Gymnasium in Freiburg und ist Lehrer aus Berufung. Was antwortet er auf Annas Fragen?

Ich habe oft das Gefühl, viele Themen durchzunehmen, die ich nie wieder brauche. Lernen wir hier wirklich für das Leben oder eher für die Schule?

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Thomas Kiechle hat bis letztes Jahr in Köln unterrichtet und arbeitet jetzt in Freiburg.

Thomas Kiechle: Ja, „Non scholae sed vitae discimus“ - „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir“. Schule ist ein großes Füllhorn. Für alle ist etwas dabei, aber nicht für alle ist alles etwas.

Zugegebenermaßen habe ich auch vieles vergessen. Und von so manchem weiß ich auch nicht, ob ich es noch brauchen werde. Aber ich kann mich auch an unglaublich vieles erinnern, was mir etwas gebracht hat: Wahrscheinlichkeitsrechnung, weil ich zum Beispiel gerne auf Sportereignisse wette. Quellenanalyse, um zu lernen, ob mir jemand etwas Seriöses mitteilt oder mir Fake News unterschieben möchte. Auch Mathekenntnisse helfen im normalen Leben: Wie schnell man seine Welt sortiert und analysiert kriegt.

Vieles, was man lernt, spürt man gar nicht sofort oder bewusst im Alltag. Aber ohne diese Fertigkeiten sähe es oft ganz anders aus. Und manches weiß man auch erst mit der Zeit zu schätzen. Mittlerweile bin ich Vater und meine Kinder stellen mir viele Fragen zu physikalischen Erscheinungen (Warum wird es Tag und Nacht?) und ich danke meinem alten Physiklehrer dafür, dass ich so etwas beantworten kann.

Also nur Geduld: Die Momente, an denen das Schulwissen einen wohlig warm erinnern lassen, dass nicht alles umsonst war, kommen noch. Versprochen!

Selbst wenn wir das Thema im späteren Leben noch brauchen, wird das selten so vermittelt. Warum erklären Lehrer nicht besser, wo einem das Wissen später helfen kann und bauen Brücken zur Realität?

Kiechle: Ich hatte eigentlich gedacht, dass uns das mittlerweile besser als früher gelingt. Ich kann zumindest garantieren: Lebensweltbezug spielt eine sehr bedeutende Rolle.

Das umzusetzen ist manchmal leichter und manchmal schwieriger. In Sozialwissenschaften durfte ich neulich die Frage diskutieren, ob man für die Klimademonstrationen die Schule schwänzen darf. Fanden alle sehr lebensnah. In Geschichte eine Stunde später wiederum haben wir uns angeschaut, wie unter Napoleon das damalige Deutschland reformiert wurde - es fielen Begriffe wie Flurbereinigung und Säkularisation. Da fiel es einigen (und mir auch) schon schwerer, festzustellen, wie das für das eigene Leben eine Rolle spielen kann, schließlich wird nicht jeder von uns später ein großer Feldherr oder Staatenlenker. Und dennoch: Die Frage, welches Verhältnis Kirche und Staat zueinander haben, ist sehr bedeutsam.

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Und wie ist das mit abstrakteren Fächern wie Mathe?

Kiechle: Wenn ich in meiner achten Klasse quadratische Ergänzungen unterrichte, wird auch jedes Mal gefragt, wozu wir das brauchen. Und alle müssen schon immer lachen, wenn ich mich wieder lehrerhaft abmühe, den Sex Appeal von Binomischen Formeln anzupreisen.

Ich helfe mir da immer mit einem Bild aus dem Leben: Mathematik fürs spätere Leben - sei es bei Bevölkerungsprognosen, in der Architektur, im Finanz- und Versicherungswesen - ist wie ein aufwändiges Haus zu bauen. Und Mathematiker sind wie Handwerker. Ein guter Handwerker kann viele Handwerkszeuge anwenden, von denen Normalsterbliche nur wenig Ahnung haben. Und in Mathematik ist es auch so. Plus und Minus kann jeder, quadratische Ergänzungen sind etwas für Spezialisten. Ein Handwerkszeug von vielen, das später hilft, ein guter Finanzmathematiker oder Architekt zu werden.

Ich würde mir wünschen, dass die Schule auch mehr auf Beruf, Ausbildung und Studium vorbereitet - zum Beispiel auf Themen wie Steuern, Bewerbungen oder technische Grundkenntnisse…

Kiechle: Studien- und Berufsorientierung ist schon lange ein ganz bedeutender Bereich im Schulalltag und es wird viel Zeit und Leidenschaft in solche Dinge investiert.

Warum heißt es immer, dass wir das Lernen lernen sollen?

Kiechle: Wenn das Weltwissen mit seinen Fakten und seinen Fertigkeiten wie zigtausende Inseln in einem riesiger Ozean ist, dann können wir Lehrer in der kurzen Zeit nur beibringen, wie man das Floß baut und wie man Inseln im Allgemeinen erforscht. Was bringt alles angesammelte Wissen, wenn wir Euch nicht den Schlüssel in die Hand geben, neue Welten ganz alleine zu entdecken. Denn irgendwann seid Ihr nicht mehr in der Schule - das Lernen hört aber nicht auf. Im Gegenteil: Es fängt erst richtig an.

Warum wird ein so breiter Lehrstoff unterrichtet? Will man sicher sein, so viele Bedürfnisse wie möglich abzudecken - weil also immer jemand katholische Religion beruflich brauchen könnte?

Kiechle: Es ist wie an einem guten Buffet: Für jeden ist etwas dabei - manche Sachen sind beliebter, manche schmecken eher exotisch und manche gar nicht. Na ja, und ein bisschen atmen unsere Schulen auch noch den Geist des Humanismus: Man kann intellektuell gar nicht breit genug aufgestellt sein.

Muss man überhaupt noch solch ein breit gefächertes Allgemeinwissen lernen, wo man doch heute auch alles googlen kann? Sollte sich das Lernen nicht an die digitale Welt anpassen?

Kiechle: Klar muss die Schule mit der Zeit gehen. Ich finde, das könnte sie sogar gerne noch ein bisschen deutlicher tun. Und uns darauf vorbereiten, was die Digitalisierung alles so mit uns macht.

Aber grundsätzlich ist ein schnell verfügbares und belastbares Fundament an Allgemeinwissen immer hilfreich, um sich im Alltag weiterzuhelfen. Wo kein Wissen vorhanden ist, kann weniger neues Wissen anknüpfen. Außerdem ist es immer wichtig zu wissen, wie ich mein Wissen anwenden kann. Dass man zum Beispiel nicht alle Wahlkreise in Deutschland auswendig lernt, sondern viel lieber weiß, wie ein Wahlkreis gebildet wird und inwiefern der Zuschnitt eines Wahlkreises politisch immense Auswirkungen haben kann. Kompetenzorientierung heißt das Lehrerzauberwort.

Wie könnte ein Lehrplan aussehen, der Allgemeinwissen und Lebenswissen vereint? Und wie realistisch umzusetzen ist er im Schulsystem von heute?

Kiechle: Das wiederum ist eine sehr politische Frage, die sich hier in Kürze nicht beantworten lässt. Ich finde allerdings, dass trotz aller teils auch berechtigten Kritik an unseren Lehrplänen auch viel Gold in ihnen zu heben ist. Andererseits ist es tatsächlich gar nicht so einfach, einen angemessenen Lehrplan zu erstellen, der alles Notwendige beinhaltet. Und am Ende des Tages sind solche Lernpläne auch sehr geduldiges Papier: Es kommt immer auch auf den Lehrer an, der sie umzusetzen hat. Aber gerade deswegen bin ich zuversichtlich. Wir geben uns Mühe - versprochen!

Vielen Dank für das Gespräch.

Mitarbeit: Anna Sophie Schneider

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