AltersstarrsinnWenn sich pflegebedürftige Angehörige nicht helfen lassen

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Alte Menschen sind zum Teil nicht mehr so fit auf den Beinen.

Alte Menschen sind zum Teil nicht mehr so fit auf den Beinen.

Mehr als 2,5 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Davon werden zwei Drittel durch Angehörige versorgt, oft von den Kindern und ihren Familien. Obwohl sich pflegende Angehörige enormen seelischen und körperlichen Belastungen aussetzen, holen sich die meisten von ihnen keine professionelle Hilfe.

In Internetformen berichten Betroffene, wie belastend es ist, wenn die Großeltern oder Eltern keine Hilfe annehmen wollen. Mürrisch, aggressiv und sehr stur würden viele alte Menschen jede Hilfe verweigern. „Meine Oma ist 90 Jahre alt, aber den Terror, den sie macht, halten meine Mutter und ich nicht mehr aus“, schreibt eine Betroffene im Forum Pflegenetz. Eine andere: „Bin mit den Nerven völlig am Ende, hatte auch deswegen schon einen Hörsturz. Was soll ich nur machen?

Reden gegen die Wand

Viele Kinder, deren Eltern langsam mehr Hilfe von außen benötigen, beschreiben diesen Wandel als schwierig. Immer wieder ist die Rede vom Altersstarrsinn. Die Betroffenen haben das Gefühl, ständig gegen eine Wand zu reden. Egal, ob es um vergleichsweise einfache Hilfen geht, wie Hörgeräte, Gehhilfen oder Unterstützung im Haushalt. Richtig kritisch wird es, wenn Pflegestufen beantragt werden müssen, ein Pflegedienst nach Hause kommen soll oder der Vater oder die Mutter ins Pflegeheim müssen.

Perspektivwechsel tut gut

Warum ist es so schwierig, Hilfe anzunehmen? Pflege-Experten und Psychologen raten zu einem Perspektivwechsel. Alte Menschen reagieren oft so ablehnend, weil sie Angst davor haben, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Der Verlust von Autonomie ist ein schmerzhafter Prozess. Für jemanden, der sein Leben lang Auto gefahren ist, ist es ein großer Einschnitt, den Führerschein abzugeben.

Meine Großeltern (beide fast 90 Jahre, eigenes Haus) kommen alleine einfach nicht mehr zu recht. Alle Hilfsangebote wie Essen auf Rädern, eine Reinigungskraft oder eine Seniorenbetreuerin, die alle anfallenden Arbeiten und Begleitung übernehmen würde, lehnen die beiden ab. Sie denken, dass sie alles noch alleine hinbekommen. Wir sind richtig verzweifelt“, schreibt eine weitere Betroffene im Forum der Zeitschrift Eltern.

Medien vermitteln ein verzerrtes Bild vom Alter. Mehr dazu lesen Sie auf der nächsten Seite.

Anleitung, wie man mit dieser für alle Seiten schwierigen Situation umgehen soll, gibt es kaum. Ganz im Gegenteil. Die Medien vermitteln ein verzerrtes Bild vom Älterwerden. Marketing-Profis haben längst die sogenannten "Best Ager" (Menschen im besten Alter) als werberelevante Zielgruppe entdeckt. Best Ager sind fitte, gut situierte und fröhliche Rentner, die auf Weltreise gehen. Mit der Lebenswirklichkeit in vielen Familien hat das wenig zu tun.

Starsinnig oder standhaft?

Zu bedenken ist aber auch, welchen Stellenwert das Alter in unserer Gesellschaft hat. Ist es nicht auch eine Geringschätzung junger Menschen gleich von Altersstarrsinn zu sprechen, wenn die alten Eltern nicht mit den Attributen Güte, Verzicht oder Altersmilde glänzen? Wer von uns möchte ein Hörgerät tragen? Wer gibt gerne den Führerschein ab? Wer geht freiwillig in ein Pflegeheim? Der Perspektivwechsel hilft und sorgt für Verständnis.

Wandel der Rollen ist eine Mammutaufgabe

Der Rollenwechsel vom fürsorgenden Elternteil zum hilfsbedürftigen ist nicht leicht. Genauso wenig wie der Wandel vom Kind zum pflegenden Angehörigen. Das sind Mammutaufgaben. Sich das einzugestehen hilft schon einmal weiter. Die Initiative „Pflegen und Leben“ rät Angehörigen, die am Starrsinn ihrer Eltern verzweifeln, Dritte einzubeziehen. Das können Bekannte, weitere Familienangehörige oder andere vertraute Personen sein. Eltern lassen sich von Dritten oft mehr sagen und empfinden ihre Ratschläge als nicht so bedrohlich. Kinder, die ihre Eltern pflegen, sollen nicht den Fehler machen, zu denken, „da alleine durch zu müssen“, empfiehlt die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung in einer Broschüre.

Warum lehnen alte Menschen Hilfe ab? Mehr dazu auf der nächsten Seite.

„Pflegen und Leben“ ist ein Internetportal für pflegende Angehörige. Die ausgebildeten Berater, meist Psychologen, helfen kostenfrei und anonym in Krisensituationen. Warum ist es oft so schwierig, zu helfen? Das Beraterteam um Psychologin Imke Wolf nennt die wichtigsten Gründe. - Eltern ist es unangenehm, sich von Kindern pflegen zu lassen. Sie wollen niemandem zur Last fallen. - Es gibt ein großes Schamgefühl, sich zum Beispiel vom eigenen Kind waschen zu lassen. - Umkehr des Eltern-Kind-Verhältnisses wird als unnatürlich empfunden. Die Psychologin betont, dass beide Seiten Schritt für Schritt lernen müssen, mit der neuen Beziehung umzugehen. Aggressive und ablehnende Haltungen seien normal.

Worauf pflegende Angehörige auch noch achten können, wenn sie mal wieder das Gefühl haben „gegen die Wand zu reden“.

Das hilft:

Auch wenn man diese Tipps beherzigt, bleibt es ein Balanceakt, einerseits Entscheidungen im Sinne des Pflegebedürftigen zu treffen, auf der anderen Seite dessen Autonomie und Würde zu wahren. Den richtigen Mittelweg zu finden ist nicht leicht. Ein wertschätzender Umgang ist die Grundlage für eine gute Beziehung zwischen Kindern und Eltern, auch in der letzten Lebensphase.

Mehr Hilsangebote im Netz:

"Entlastung für die Seele - Ein Ratgeber für pflegende Angehörige" von u. A. der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung e.V.

Eine umfangreiche Liste mit deutschlandweiten Initiativen, die Pflegende unterstützen von "Pflegen und Leben"

Wie belastbar sind Sie? Ein Test, den Sie am Bildschirm machen können.

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