Angststörungen, DiabetesWas Kindern droht, wenn monatelang kein Sport stattfindet

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Junge sitzt vor dem Fernseher Getty Images

Homeschooling und keine Sportangebote – das ist langweilig und schadet Kindern, wenn Eltern keine Alternativen schaffen (Symbolbild).

Köln – Montags steht bei Hannah Kunstturnen auf dem Programm. Dienstags Reiten und danach noch Schwimmunterricht. Freitags hat sie Sport in der Schule. Normalerweise. Denn seit Corona liegt all das mehr oder weniger auf Eis. „Das Kunstturnen fehlt mir am meisten“, sagt die Achtjährige. „Ich vermisse meine Trainerin, meine Freundinnen und den Sport.“  Ihren Vereinssport konnte sie nur zwischen den Sommer- und Herbstferien halbwegs normal betreiben, danach waren die Infektionszahlen schon wieder zu hoch, und selbst Schulsport gab es durch den harten Lockdown in den vergangenen zwei Monaten nicht. Was macht es mit den Kindern, wenn Fußball, Ballett, Schwimmen, Hockey oder Tennis auf einmal nicht mehr möglich sind? „Studien auf der ganzen Welt legen nahe, dass durch den fehlenden Sport die Gefahr wächst, dass Kinder Angststörungen und depressive Verstimmungen, Fettleibigkeit und Diabetes entwickeln“, sagt Lars Donath, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er findet: Eltern müssten sich Sorgen um die Bewegung ihrer Kinder machen. „Nicht nur in der Pandemie, aber gerade jetzt ist es wichtig, dass man den Sport wieder in den Fokus holt.“ Wie das gelingen kann, erklärt er in diesem Text.

Zunächst aber müssen wir uns anschauen, was den Sport überhaupt so wichtig für Kinder macht. Für Donath ist der Sport ein „Breitband-Heilmittel“, es gebe kaum Besseres für die ganzheitliche Entwicklung des Kindes. Denn die Bewegung wirke auf mindestens vier Ebenen, erklärt der Wissenschaftler. Erstens stärke Sport den Körper: Muskulatur, Herz, Lunge, Gefäße, Gehirn, und das ganze Hormonsystem würden besser durchblutet und mit Nährstoffen versorgt. Wer sich regelmäßig bewege, sei ausdauernder, erhole sich schneller und schlafe besser. Zweitens mache Sport Kinder psychisch gesehen ausgeglichener und belastbarer. Sie könnten sich dadurch auch besser konzentrieren und Stress puffern.

Drittens wirke der Sport auch auf emotionaler Ebene: „Die Kinder erleben im Sport Frust und Enttäuschung – und lernen diese zu händeln.“ Sie könnten ihre Affekte besser kontrollieren und würden geduldiger, nachgiebiger und willensstärker. Und viertens lernten die Kinder auch soziale Kompetenzen wie Einflussvermögen und Rücksicht. „Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass Sport die akademische Leistung positiv beeinflusst“, sagt Lars Donath. Ergo: Wer fit ist, hat im Durchschnitt auch bessere Noten in der Schule.

Viel zu wenig Sport während der Pandemie

All diese positiven Effekte leiden natürlich, wenn der Auslöser fehlt. Und das tut er während dieser Pandemie. Daten aus Kanada zeigen, dass von 1500 Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren nur fünf Prozent die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umsetzten. Die WHO empfiehlt eine Stunde moderate bis anstrengende Bewegung für Kinder pro Tag. Deutsche Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. 

Zwar hat die Motorik-Modul-Studie des Karlsruher Instituts für Technologie und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe im Rahmen einer ergänzenden Studie mit mehr als 1700 Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren festgestellt, dass die Kinder und Jugendlichen sich im Lockdown im Frühjahr rund eine halbe Stunde pro Tag mehr bewegt haben als vor Corona. Diese Bewegung hätte aber nicht dieselbe Intensität gehabt wie Sport im Verein oder in der Schule, so die Wissenschaftler. Zudem bezweifeln sie, dass die Ergebnisse im kalten Winter-Lockdown ähnlich positiv ausfallen würden wie im sonnigen Frühjahr 2020.

Eine Studie am Universitätsklinikum Münster hat hingegen ergeben, dass Sport und Bewegung bei Jugendlichen im Regierungsbezirk Münster dramatisch zurückgegangen sind. Während des Lockdowns im April habe sich die Gruppe derjenigen Kinder, die sich fast gar nicht mehr bewegt hat, verfünffacht – von fünf auf etwa 25 Prozent, sagte Sportwissenschaftler Matthias Marckhoff in einem Interview mit der „Sportschau“. Die Müsteraner Studie mit etwa 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sei zwar nicht repräsentativ – die Studienleiter fürchten allerdings, dass die negativen Auswirkungen in Städten noch größer seien als in ihrer Studie mit Probanden aus dem vorwiegend ländlichen Raum.

Corona wirkt wie ein Brennglas

Logisch, denn in eng bebauten Städten muss ja erstmal freie Fläche zum Toben her. Die achtjährige Hannah und ihre kleinen Brüder haben es da gut: Im großen Garten hinter dem Einfamilienhaus in Erftstadt ist ein riesiges Trampolin in den Boden eingelassen, neben dem Sandkasten warten zwei Reckstangen. Daran trainiert Hannah regelmäßig fürs Kunstturnen. Auf der wenig befahrenen Straße vor dem Haus düsen sie und ihr fünfjähriger Bruder mit Longboard und Fahrrad auf und ab. Auch die Wege zum Einkaufen, zu den Großeltern und der befreundeten Lockdown-Familie werden oft geradelt. „Mir ist es wichtig, dass die Kinder sich viel bewegen. Deswegen versuche ich, ihnen das vorzuleben und fordere sie auch immer wieder zu Bewegung auf“, sagt Mutter Franziska Icking.

Corona wirke auch im sportlichen Bereich wie ein Brennglas, sagt Lars Donath. „Wenn die Eltern inaktiv sind, dann sind es die Kinder meistens auch. Die Kinder, die vorher schon schlechter gestellt waren, leiden jetzt besonders. Denn Schule und Vereine können die fehlende Bewegung im Lockdown eben nicht auffangen.“ Doch die Daten zeigten, dass selbst die Familien, die sich um Bewegung bemühen, insgesamt inaktiver geworden sind. Gleichzeitig stieg die Zeit vor Computer-, Fernseh- und Tablet-Bildschirmen überall an.

Druck entlädt sich an der falschen Stelle

Kinder bräuchten den Wechsel aus Entlastung und Belastung für eine gesunde Entwicklung, sagt Donath. „Wenn das fehlt, entlädt sich der Druck an der falschen Stelle.“ Auch Kinderpsychologen beobachteten bereits, dass Kinder unruhiger und unausgeglichener seien, dass sie aggressiver und gereizter reagierten und sich schlechter konzentrieren könnten. „In der Pandemie stehen alle Akteure unter Druck, vor allem, wenn die Familie in einer kleinen Wohnung lebt und die Eltern auch noch wirtschaftliche Sorgen haben. Das ist ein explosiver Cocktail.“ Die langfristigen Folgen indes kann man noch nicht einschätzen, es fehlen Langzeitstudien. „Klar ist aber in jedem Fall, dass es ein verlorenes Jahr für die Kinder ist.“

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Karl, Hannahs fünfjähriger Bruder, hatte ein paar Wochen vor Corona mit dem Fußballtraining im Verein begonnen. Er ist nicht traurig, dass zurzeit kein Training stattfinde, sagt er. Er könne sich gar nicht mehr richtig an die paar Donnerstage Training erinnern, glaubt seine Mutter. Stattdessen möchte Karl nach der Pandemie Tennis spielen. Gemeinsam mit seinem Corona-Freund spielt er nämlich gerne mit Tennisbällen. „Die Kinder sind jetzt in dem Alter, verschiedene Sportarten auszuprobieren, doch das ist gerade gar nicht möglich“, sagt Franziska Icking bedauernd.

Plädoyer für die tägliche Sportstunde

Lars Donath plädiert dafür, nach Corona eine tägliche Sportstunde in den Schulen einzuführen. „Eltern machen sich oft Sorgen um die Noten ihrer Kinder. In der Regel machen sie sich aber wenig Gedanken darum, ob ihre Kinder genügend Schritte am Tag machen und eine ganzheitliche, vielfältige körperliche Entwicklung genießen“, sagt er. „Wenn wir das aber aus dem Blick verlieren, verschenken wir Potenziale.“ Er rät Eltern, in der derzeitigen Situation nicht zu verzweifeln, sondern die Pandemie als Chance zu sehen und mit der ganzen Familie etwas umzusetzen, was man vielleicht schon immer einmal machen wollte – wofür aber bisher die Zeit fehlte.

Franziska Icking, die noch in Elternzeit ist, hat mit ihren drei Kindern im Januar an einer Lauf-Challenge teilgenommen. Jeden Morgen ging es vor dem Homeschooling raus an die frische Luft: Sie in Laufschuhen, die Kinder auf Fahrrad oder Roller, das Baby im Sportwagen. Auch Hannah ist manchmal mit gejoggt. „Einmal habe ich sogar sechs Kilometer geschafft“, erzählt sie ganz stolz.

Gemeinsam mit Lars Donath haben wir Tipps gesammelt, die Kinder in Bewegung bringen:

Für schlechtes Wetter

Machen Sie aus Ihrer Wohnung einen Bewegungs-Parcours. Über Decken, Hocker und Tische geht es vom Flur bis ins Kinderzimmer.

Für gutes Wetter

Eine Fahrradtour durch den Wald über Stock und Stein. Kleine Joggingtouren mit den Kindern, mit eingebauten Sprints und Rückwärtsläufen.

Für Städter

Mit dem Fahrrad oder zu Fuß bis zum nächsten Bewegungsparcours (sind unter anderem in dieser App verzeichnet) in einem der Kölner Parks wandern, dort Sport treiben und zurücklaufen bzw. fahren.

Für Zwischendurch

Nicht Essen, sondern Bewegung snacken – jede Treppe wird doppelt gegangen, und bevor man sich hinsetzt, muss man fünf Kniebeugen machen.

Für Wettbewerbslustige

Jeder aus der Familie denkt sich drei Übungen aus, die alle machen müssen: Liegestütze, Hampelmänner, Ausfallschritte, Kniebeugen, Crunches. Dann wird der Timer gestellt. Wer schafft wohl die meisten Wiederholungen? Mit kleinen Kindern kann man zum Beispiel die Bewegungen von Tieren imitieren.

Für Unkreative

Sportvideos von Youtube mitmachen. Das Basketballteam Alba Berlin veröffentlicht seit dem ersten Lockdown tolle Sportvideos für Kinder. Beim BR findet man gute Videos mit Skirennläufer Felix Neureuther. Und Jugendliche werden sicherlich bei bekannten Fitness-Influencerinnen wie Pamela Reif, Mady Morrison oder Sophia Thiel fündig.

Für Serienjunkies

Mit Kindern, die viel lieber Fernsehen gucken als sich zu bewegen, einen Deal aushandeln: Wenn du eine halbe Stunde Sport machst, darfst du eine Stunde Fernsehen gucken.   

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