Coming-Out des Kindes„Eltern dürfen auch zugeben, dass sie erstmal überfordert sind“

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Wenn sich das eigene Kind als schwul, lesbisch oder bisexuell outet, ist das für viele Eltern nicht leicht – besonders am Anfang.

  • Dass das eigene Kind schwul, lesbisch oder bi sein könnte, wird vielen Eltern erst bewusst, wenn ihr Kind im Teenager-Alter Anzeichen zeigt, die möglicherweise darauf hindeuten könnten.
  • Doch sollten die Eltern hier einfach direkt nachfragen? Und wie können sie richtig reagieren, falls sich das Kind tatsächlich outet?
  • Jürgen Piger vom schwul-lesbischen Jugendzentrum „anyway e.V.“ in Köln begleitet regelmäßig Jugendliche und deren Eltern vor und nach dem Coming-Out. Und weiß, was in dieser aufwühlenden Zeit helfen kann.

Köln – Wenn Eltern vermuten, dass ihr Kind lesbisch, schwul oder bi sein könnte – sollten sie es darauf ansprechen oder lieber warten, bis das Kind damit auf sie zukommt? Jürger Piger: Ich würde eher davon abraten, spontan nachzufragen, wenn man die Vermutung hat. Das könnte eine Tür zuschlagen. Es gibt ja selten eindeutige Signale, dass ein Kind schwul, lesbisch oder bi ist. Ich erlebe hier in der Beratung oft ungeduldige Eltern, die unbedingt möchten, dass das Kind es ihnen jetzt endlich sagt. Aber jedes Kind braucht seine eigene Zeit. Und die sollten die Eltern ihm auch zugestehen.

Wie können Eltern signalisieren, dass sie offen und tolerant sind – und so vielleicht den Weg zum Outing erleichtern?

Was grundsätzlich sehr hilft ist eine positive Grundstimmung in der Familie. Das Kind sollte immer das Gefühl haben, es kann den Eltern etwas anvertrauen, ohne dass sie durchdrehen.

Ich finde, Eltern sollten das Thema sexuelle Orientierung allgemein in der Erziehung aufgreifen, ganz unabhängig davon, ob das Kind schwul, lesbisch oder bi wird. Außerdem können sie den Kindern ein Umfeld bieten, in dem die den Mut haben können, sich zu outen. Zum Beispiel könnten die Eltern, wenn im Fernsehen etwas über Homosexualität gezeigt wird, ein positives Statement abgeben. So merken die Kinder, dass die Eltern grundsätzlich offen sind für das Thema. Dass sie keine Angst haben müssen. Kinder haben nämlich oft ein gutes Gespür dafür, ob sie es ihren Eltern sagen können oder sie sie damit überfordern.

Warum zögern viele Jugendliche oft so lange, bis sie sich outen?

Verein „Anyway“

„Anyway e.V.“ war das erste schwul-lesbische Jugendzentrum Europas. Der Jugendhilfe-Verein betreibt heute ein Jugend-Café in Köln, das Treffpunkt für schwule, lesbische, bisexuelle und transsexuelle Jugendliche ist. Zudem bieten die Pädagogen und Sozialarbeiter des „Anyway“ Beratung und Workshops an. Regelmäßig gehen sie in Schulen, um dort über LGBT aufzuklären.

Viele Kinder haben Schuldgefühle, weil sie vermuten, dass sie mit dieser Nachricht auch Träume ihrer Eltern zerstören. Und wenn Kinder merken, dass sie ihre Eltern enttäuschen könnten, überlegen sie es sich gut, ob sie es sagen sollen oder nicht. Und dann merken sie häufig sehr schnell an der Mimik der Eltern, ob sie mit dem Thema auf Verständnis oder Ablehnung stoßen.

Wie könnten Eltern in der Coming-Out-Situation gut reagieren? Was brauchen Kinder in so einem Moment?

Sie sollten auf keinen Fall losbrüllen, sondern am besten gelassen und unaufgeregt reagieren. Und vor allem nicht dramatisieren. Sie könnten dem Kind sagen, dass sie es immer lieben und unterstützen. Dass es immer ihr Kind bleiben wird. Dass sich nichts geändert hat. Und dass sie wollen, dass es glücklich wird – es aber selbst entscheiden kann, mit wem es glücklich wird.

Dürfen sie auch ehrlich zugeben, wenn sie mit der Nachricht überfordert sind?

Ja, sie dürfen ruhig auch sagen, dass sie vielleicht unsicher und überfordert sind, dass das für sie neu ist oder sie die Nachricht erst verarbeiten müssen. Eltern sollten ihren Kindern nichts vorspielen, sondern authentisch sein. Sie sollten dem Kind offen sagen, dass sie sich vielleicht noch nicht so gut auskennen und viele Fragen haben.

Auch wenn die Enttäuschung noch so groß ist, sollten Eltern aber auf ihre Kinder eingehen. Und ihnen sagen: Ich bin sicher, wir kriegen das hin. Sie sollten ein Forum schaffen, um ein Gespräch mit ihnen zu öffnen, auch längerfristig.

Ich kann mir vorstellen, viele Eltern sind, was das Thema Homosexualität betrifft, befangener als sie vielleicht sein möchten, wenn es das eigene Kind betrifft…

Homophobie

Eine neue Studie bestätigt, dass Homophobie weiter ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem ist – besonders junge Menschen leiden darunter. „Jede fünfte lesbische, bi- und asexuelle Frau im Alter zwischen 18 und 35 Jahren gibt an, bereits Erfahrungen mit Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität gemacht zu haben. Bei homosexuellen, bi- und asexuellen Männern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren sind es sogar 63 Prozent“, sagt Prof. Dr. med. Heidrun Thaiss, die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 

Viele Eltern reagieren im ersten Moment geschockt, verletzend oder ablehnend. Eben weil sie sich damit noch nicht auseinandergesetzt haben. Kinder tragen das Thema in der Regel vier bis fünf Jahre mit sich herum, bis sie sich outen. In dieser Zeit können sie sich darauf vorbereiten und hunderte Szenarien durchspielen. Eltern sind häufig blind und werden in diese Situation hinein geworfen. Da kann es zu emotionalen Auseinandersetzungen kommen.

Für viele Eltern bedeutet diese Nachricht eben auch, dass sie Abschied nehmen müssen von bestimmten Zukunftsvorstellungen, die sie für das Kind hatten. Etwa vom Wunsch Großeltern zu werden. Das macht viele traurig und unsicher.

Was kann nach dem ersten Schock helfen?

Anmerkung

In diesem Artikel geht es um das Coming-Out von schwulen, lesbischen und bisexuellen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Coming-Out von transsexuellen Menschen ist oft komplizierter und ein eigenes Thema. Aus diesem Grund wird hier auch nicht der Begriff „LGBT“ (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender) verwendet.

Ich rate den Jugendlichen an der Stelle immer, den Eltern Zeit zu geben, die Nachricht zu verdauen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Auch die Eltern sollen das Kind ruhig bitten, ihnen Raum zu geben, um sich an die neue Situation gewöhnen zu können. Meistens bringt eine gemeinsame Beruhigungsphase die Lage wieder ins Lot.

Bei uns in der Beratung habe ich die Erfahrung gemacht, dass Eltern sich nach einer ersten Schockphase auf das Kind zugehen und in der Regel gut damit zurechtkommen. Häufig schweißt das Kinder und Eltern sogar noch mehr zusammen. Weil sie sich mehr miteinander auseinandersetzen müssen. Und es natürlich ein Vertrauensbeweis ist, dass sich das Kind einem anvertraut.

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Es gibt sicher auch Familien, wo es nicht so glatt läuft...

Natürlich sind in größeren Städten Eltern eher schon in Berührung gekommen mit dem Thema. Hier ist es sicherlich leichter als auf dem Land. Auch in Familien mit Migrationshintergrund ist es oft schwieriger, wegen des anderen kulturellen oder religiösen Hintergrunds. Da sind Jugendliche ganz anderen Ängsten ausgesetzt. Viele können nicht offen mit ihrer Homosexualität umgehen. Weil sie Angst haben müssen, verstoßen oder nicht mehr wertgeschätzt zu werden. Manche Eltern versuchen dann, ihr Kind umzupolen oder sie lassen es nicht mehr aus dem Haus. Da gibt es ganz schreckliche Geschichten, die aber glücklicherweise selten sind.

Mit welchen Aspekten von Homosexualität tun sich Eltern besonders schwer? Was macht vielen Sorge?

Viele Eltern sorgen sich, dass es ihr Kind mit seiner sexuellen Orientierung schwer haben könnte. Eltern schwuler Jungen haben auch Ängste was HIV und Aids betrifft. Sie kennen nur das veraltete Bild der Infektion und wissen noch nicht, dass das eine chronische Erkrankung ist, mit der man relativ gut alt werden kann.

Womit viele das größte Problem haben, ist, dass schwul, lesbisch oder bi zu sein nicht der gängigen Normalität entspricht. Und keiner möchte gerne anders sein. Viele Eltern wollen immer noch einer Bilderbuchfamilie entsprechen. Dass das Kind schwul oder lesbisch ist, wird zunächst als Schwäche erlebt. Nach dem Motto: Mein Kind ist nicht normal.

Manche Eltern haben auch das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Manchmal schieben sich die Ehepartner sogar gegenseitig die Schuld dafür zu. Das läuft oft sehr subtil ab.

Die Angst, was „die anderen“ denken, spielt sicher auch eine große Rolle, oder?

Ja, natürlich steht die Frage im Raum, was Nachbarn oder Verwandte denken – ob sie vielleicht auch glauben, die Eltern hätten etwas falsch gemacht. Eltern haben auch ein Coming-Out. Das ist ihnen aber oft gar nicht bewusst. Sie müssen es ja auch irgendwann ihren Eltern, Freunden und Kollegen sagen. Und dann mit den Vorurteilen oder sogar dem Mitleid der Menschen umgehen.

Wir haben gemerkt, dass es viel hilft, wenn nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Eltern mit anderen Betroffenen ins Gespräch kommen oder sich beraten lassen. Dort können sie sich sammeln und auch überlegen, wann und wie sie es dem Umfeld mitteilen können. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Leider nehmen immer noch viel zu wenige diese Hilfe in Anspruch, wahrscheinlich aus Scham. Dabei brauchen Eltern ein Forum, um sich damit zu beschäftigen.

Je selbstbewusster Eltern und Kinder mit dieser Situation umgehen, umso selbstbewusster können sie auch nach außen auftreten. Und umso besser geht auch das Umfeld damit um.

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