Hirnforscher„Die Kinder funktionieren perfekt, aber werden Robotern immer ähnlicher“

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Als Corona neu war, malten Kinder noch Regenbogen. Ein Jahr später sind Einschränkungen zu ihrer Normalität geworden.

Köln – Ständig aufpassen, Abstand halten, zuhause lernen und kaum Gleichaltrige treffen: Für Kinder ist vieles anders geworden seit der Pandemie. Schadet ihnen das auf Dauer? Und wie können Eltern positiv gegensteuern? Ein Gespräch mit dem bekannten Neurobiologen Gerald Hüther. Der Corona-Ausnahmezustand ist auch für Kinder zur neuen Realität geworden. Was hat diese lange Zeit der Einschränkungen mit ihnen gemacht? Gerald Hüther: Seit Corona sind Kinder in einer Situation, in der sie versuchen, alles zu tun, um die Vorgaben der Erwachsenen einzuhalten. Das machen fast alle Kinder erstaunlich gut. Wir Erwachsenen freuen uns darüber und führen die jungen Menschen oft sogar noch als gutes Beispiel vor. Doch man muss auch verstehen, was das für sie bedeutet: Die Kinder sind ständig gezwungen, ihre lebendigen Bedürfnisse zu unterdrücken. Denn eigentlich wollen sie ja mit anderen zusammen sein, mit Gleichaltrigen spielen, sie brauchen Nähe und Verbundenheit. Das sind Grundbedürfnisse, mit denen sie schon auf die Welt kommen. Außerdem haben sie das Bedürfnis nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, sie wollen sich als Entdecker auf den Weg machen. Und beides geht in dieser Zeit nicht. Was hat das für Folgen?

Die Kinder funktionieren dann perfekt, aber werden damit auch digitalen Geräten immer ähnlicher. Automaten, Computer oder Roboter funktionieren ja nur deswegen so gut, weil sie keine Bedürfnisse haben. Wir machen also gerade etwas mit unseren Kindern, über das wir uns bisher in keiner Weise klar sind. Und das sollte uns zu denken geben.

Was passiert im Hirn, wenn diese Bedürfnisse länger unterdrückt werden?

Ein lebendiges Bedürfnis zu unterdrücken ist ein sehr schwieriger Prozess und erfordert sehr viel Kraft. Das Hirn sucht sich für dieses Problem selbst eine Lösung. Es bilden sich hemmende Vernetzungen über den Strukturen im Hirn, die diese Bedürfnisse hervorbringen. Mit anderen Worten: Nach einer gewissen Zeit, wenn das Kind klaglos alles mitmacht, ist das ein Zeichen dafür, dass das Bedürfnis weg ist, genauer gesagt weggehemmt wurde.

Wenn ein Kind zum Beispiel immer unglaublich gerne mit der Oma gekuschelt hat und dieses Bedürfnis ein Jahr nicht mehr ausleben durfte, dann fremdelt es, wenn es die Oma jetzt wieder trifft. Und jetzt stellen Sie sich vor, Kinder verlieren die Lust am gemeinsamen Spielen mit anderen, am Entdecken und Gestalten. Dann ist ihnen das Wichtigste geraubt, um sich das Leben zu erschließen.

Wenn meine siebenjährige Tochter, die eigentlich immer so gern gelernt hat, jetzt ständig lustlos am heimischen Schreibtisch hängt, heißt das also, dass ihr Lern- und Entdeckerbedürfnis weggehemmt wurde?

Ja, das passiert. Wenn ein siebenjähriges Kind ein Jahr seine Bedürfnisse unterdrücken muss, erlebt es das so, als müsste ich als Siebzigjähriger zehn Jahre mit Maske und Abstand umherlaufen. Selbst bei mir würde das unauslöschliche Spuren hinterlassen. Ich bin danach nicht mehr derselbe – und das geht Kindern genauso. Bei ihnen kommt aber noch dazu, dass ihr Gehirn noch wesentlich formbarer ist und sie darunter noch kein Fundament haben. Deshalb wirkt das, was passiert, noch viel nachhaltiger. Als Siebzigjähriger weiß ich schon, wie ich meine Bedürfnisse stillen kann, Kinder wissen das noch nicht.

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Wurde zu wenig an die Kinder gedacht im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung – wurden die Schwerpunkte falsch gesetzt?

Ja, wir haben uns als Gesellschaft darauf verständigt, dass das Haus brennt, haben die Feuerwehr geholt und es ist uns dann auch egal gewesen, dass die Kinderzimmer dabei alle unter Wasser gesetzt wurden.

Wie können wir denn die Kinder trotz der gegebenen Einschränkungen unterstützen?

Erwachsene sollten jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um dem Kind die Erfahrung zu ermöglichen, auch unter diesen restriktiven Bedingungen seine lebendigen Bedürfnisse zu stillen. Das geht auch in Pandemie-Zeiten. Eltern sollten die Zeit, die sie haben, ganz und gar den Kindern schenken und zuhause so oft wie möglich mit ihnen tanzen, musizieren und singen, ihnen etwas vorlesen und ihre Probleme besprechen. Und immer wieder eine körperliche Nähe herstellen. Sie müssen den Kindern eine Leichtigkeit erlauben, damit die wenigstens an einem Teil des Tages eine lebenswerte Zeit haben. Dann werden diese hemmenden Verschaltungen in den Kinderhirnen nicht so stark und es ist anschließend auch leichter, diese Bedürfnisse wieder freizulegen.

Kindern Leichtigkeit zu schenken, das ist für erschöpfte Eltern aber gerade besonders schwer. Wie kann das dennoch gehen?

Buchtipp

Gerald Hüther, Lieblosigkeit macht krank, Herder Verlag, 2021

Zunächst müssen die Erwachsenen bei sich selbst ansetzen. Wenn sie, die das Kind begleiten, mit der Corona-Situation nicht zurechtkommen, können sie sich ihm gegenüber nicht richtig öffnen. Sie vertreten dann ihre eigenen Ängste und geben sie an das Kind weiter. Dem sind die Kinder mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Sie haben ja nur uns. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass die Erwachsenen nicht wie aufgescheuchte Hühner herum laufen, sondern für sich selbst einen Weg finden, wieder zu sich selbst zu kommen. Dann strahlen sie diese Lebendigkeit auch wieder auf die Kinder aus. Die merken nämlich ganz genau, was authentisch ist und ob ihre Eltern wirklich da sind.

Und wie kommen die Eltern da hin?

Als Erwachsener kann man trotz der Enge wieder zum Gestalter des eigenen Lebens werden und in die eigene Kraft zurückfinden. Und zwar, indem man beschließt, nichts mehr zu tun, das man nicht zutiefst und innerlich mag. Mit anderen Worten: Man könnte versuchen, etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen. Darüber habe ich auch mein neues Buch „Lieblosigkeit macht krank“ geschrieben.

Was soll das konkret bedeuten, liebevoller zu sich zu sein?

Man könnte sich fragen: Was möchte ich wirklich und was stelle ich mir nur vor, weil es alle anderen auch so machen? Muss ich wirklich ein dickes Auto fahren, um anderen zu beweisen, dass ich es mir leisten kann? Oder dauernd irgendetwas tun, um die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich zu lenken? Viele Leute haben eher Vorstellungen im Kopf, worauf es so ankommt, wie Schulabschlüsse oder Karriere. Das ist alles nicht liebevoll.

Manche funktionieren nur noch und haben schon mit 20 ihre Lebendigkeit verloren. Wenn einem die Deadline wichtiger ist als das eigene Wohlbefinden, dann hat man ein Problem. Dann sitzt man abends noch stundenlang am Computer, obwohl der Rücken schon seit Stunden weh tut. Aber man will ja seine Arbeit machen und hört nicht auf den Rücken. Und irgendwann ist der steif, verbogen und völlig abgenutzt. Der Rücken wurde alleine gelassen, es wurde lieblos mit dem eigenen Körper umgegangen.

Wo im Alltag könnte man am besten anfangen, liebevoller zu sich selbst sein?

Es gibt immer einen Anknüpfungspunkt, an dem man es anders machen könnte – zum Beispiel nichts mehr zu essen, was einem nicht gut tut oder keine Kleidung mehr zu kaufen, die billig produziert wurde oder sich nicht mehr alles Mögliche im Fernsehen oder Internet anzuschauen, das einem nicht bekommt. Selbst wenn die Bedingungen, wie jetzt in der Corona-Zeit, schwierig sind, gibt es immer etwas, das man Gutes für sich selbst tun kann – und zwar auch unabhängig von den anderen. Es kann mit ganz kleinen Schritten beginnen. Das sollte es sogar, denn damit etwas im Gehirn verankert wird, braucht man Erfolgserlebnisse.

Unternimmt man etwas, das einem gut tut, wird man wieder zum Gestalter des eigenen Lebens und verbindet sich mit den eigenen Bedürfnissen. Wenn man diese Kraft dann hat, ist man auch nicht ständig darauf angewiesen, von anderen Liebe, Zuneigung oder Anerkennung zu bekommen. Im Gegenteil, man kann liebevoller zu anderen Lebewesen sein. Wenn man also liebevoll mit sich umgeht, stillt man beide Grundbedürfnisse: Das nach Freiheit und Autonomie und das nach Verbundenheit – zunächst mit sich selbst und dann auch mit anderen. Auf diese Weise hat das einen unglaublich weitreichenden Effekt. Wir haben gerade auch eine Initiative gestartet, die „liebevoll.jetzt“ heißt. Damit wollen wir Menschen ermutigen, liebevoller mit sich umzugehen und sich auch mit anderen zu verbinden.

Wie schwer ist es denn eigentlich, aus neurologischer Sicht, für einen Menschen, wieder zurück zu kommen zu sich selbst?

Je länger man als Kind die Gelegenheit hatte, diese lebendigen Bedürfnisse zu stillen, desto leichter kommt man auch als Erwachsener wieder an sie heran. Wenn man aber sozusagen perfekt funktioniert und keinen Eigensinn mehr hat, dann ist es schwer. Trotzdem sind Umbauprozesse im Hirn bis ins hohe Alter möglich, die Bedürfnisse können wieder freigelegt werden, man kann wieder lebendig werden – aber es geht eben nicht von alleine.

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