Immer noch ein StreitthemaWas braucht ein Baby wirklich, um gut zu schlafen?

Lesezeit 12 Minuten
Schlafendes Baby

Sie sehen wunderschön aus, wenn sie schlafen – der Weg dahin ist aber nicht immer leicht für Baby und Eltern.

Köln – An das Gefühl purer Verzweiflung kann ich mich noch gut erinnern. Es ist nachts um vier und mein kleiner Sohn schreit schon wieder neben mir. Ich bin so erschöpft, dass ich es kaum schaffe, mich im Bett aufzurichten. Ich möchte am liebsten verschwinden. Leise fluche ich vor mich hin und nehme ihn aus seinem Bettchen. Schon das vierte Mal in dieser Nacht. Mir tut alles weh und ich bin mir sicher, dass ich das nicht mehr lange schaffen werde.

Und doch ging es noch eine ewige Weile so weiter. Bis mein Sohn zehn Monate alt war, wachte er nachts alle zwei Stunden auf. Tagsüber entwickelte sich der Kleine prächtig, war agil, begann Brei zu essen und zu krabbeln – die Nächte aber blieben eine Katastrophe. Der bleierne Schlafmangel war mein ständiger Begleiter und machte auch die Tage zu einem nur mit Mühe stemmbaren Hindernis. Mein Mann und ich waren ratlos.

Wenn der Schlafmangel zur Qual wird

Blicke ich heute, sechs Jahre später, auf die Situation zurück, erkenne ich, wir hätten früher eine Lösung finden müssen. Doch als wir mittendrin steckten im Alltag mit zwei kleinen Kindern, war das unglaublich schwer. Meine Tochter war eine gute Schläferin gewesen und ich auf diese neue Erfahrung mit meinem Sohn überhaupt nicht vorbereitet. Es kämpften zwei Seelen in meiner Brust. Ich merkte, dass der Kleine besonders nähebedürftig war und Zuwendung brauchte – natürlich wollte ich ihm die geben. Doch ich spürte auch, wie mich der Schlafmangel zunehmend aushöhlte. Nein, so sollte, ja dürfte es nicht bleiben!

Eine Mutter schläft, an die Wiege des wachen Babys gelehnt.

Die Mutter kann sich kaum gerade halten, doch das Baby hüpft noch herum – Einschlafbegleitung kann zermürbend sein.

Wie es denn sein soll mit dem Babyschlaf, dazu gibt es viele Meinungen – ganze Ideologien gar. Eine der ersten Fragen, die neuen Eltern gestellt wird, lautet oft: „Schläft es denn schon durch?“ Das mag nett gemeint sein, häufig aber versteckt sich darin auch eine Art Musterung. Elternfähigkeiten werden daran gemessen, wie ruhig das Baby ist und ob es gut schläft – was auch immer das heißen soll. Schließlich haben es Mutter und Vater doch in der Hand, oder? Im Fall meines Sohnes hätten wir da bei vielen sicher ein ganz schlechtes Zeugnis abgegeben.

Babys „abhärten“ – Nazi-Methoden mit Nachwirkung

Was man tun sollte, damit das Baby besser schläft, auch dazu haben Menschen im Umfeld oft einen Standpunkt. „Ihr dürft ihm nicht alles durchgehen lassen! Früher bei uns hat das auch geklappt, Tür zu und gut“, heißt es dann schon mal, vor allem von den älteren Generationen. Denn als die Kind waren oder ihre Kinder großzogen, galten teils noch ganz andere Empfehlungen beim Umgang mit Babys. Vor rund 80 Jahren war es sogar normal, das Kind so viel wie möglich alleine zu lassen, egal wie laut es schrie. Zu Zeiten des Dritten Reichs waren solche Erziehungsmethoden gewollt, um den Nachwuchs vermeintlich „abzuhärten“ und die entsprechenden „Werte“ anzuerziehen – ein Kind sollte ja nicht zu viel Zuwendung bekommen.

Das propagierte auch der bekannteste Elternratgeber dieser Zeit, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Ärztin Johanna Haarer. Erstmals erschienen im Jahr 1934, wurde das Buch nach dem Krieg zunächst verboten, aber unter leicht verändertem Titel („Die Mutter und ihr erstes Kind“) wieder mehrfach neu aufgelegt – bis Ende der 80er Jahre. Vieles aus dieser Ideologie floss also auch noch Jahrzehnte später in die Erziehung mit ein, obwohl es längst andere Erkenntnisse gab. Inzwischen zeigen wissenschaftliche Studien zur körperlichen und psychologischen Entwicklung von Babys, dass solche Methoden negative Auswirkungen haben können und zurecht überholt sind.

Bei Babyschlafproblemen finden Eltern heute viel Hilfe 

Studien zum Thema

- Studie: Über ein Drittel aller Kinder schlafen auch im Alter von zweieinhalb Jahren noch nicht durch.  - Der Schlaf von Eltern ist oft bis zu sechs Jahre nach der Geburt des Kindes gestört. - Babys, die täglich Smartphones oder Tablets benutzen, schlafen kürzer.

Anders als früher, als man sich über das Schlafverhalten von Babys sicher keine großen Gedanken gemacht hat, können sich Eltern heute einen Haufen Informationen einholen. Es gibt unzählige mehr oder weniger seriöse Ansätze und Methoden, die in wissenschaftlichen Studien, in Ratgeberbüchern, auf Elternplattformen oder in Blogs erklärt werden. Bei Vereinen, in Familienzentren und von Hebammen bekommen müde Eltern Hilfe bei Babyschlafproblemen. Auch immer mehr Schlafcoaches bieten Familien kostenpflichtig eine individuelle Beratung und Schlafbegleitung an.

Wir haben damals irgendwann noch selbst eine Lösung für uns und unseren Sohn gefunden, seither schläft er prima. Doch als mein drittes Kind auf die Welt kam, standen wir wieder vor einer ganz neuen herausfordernden Schlafsituation. Ein Thema ist es für uns also geblieben – wie für viele andere Familien auch, an jedem neuen müden Tag. Und das übrigens oft weit ins Kleinkindalter hinein oder sogar darüber hinaus. Denn auch da werden noch viele Eltern nachts von ihren Kindern geweckt, „besucht“ und gebraucht.

Gibt es also überhaupt allgemeingültige Tipps, wie ein Baby gut schläft? Um das herauszufinden habe ich mit zwei Expertinnen gesprochen, die aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema schauen – und ihnen die großen Fragen zum Babyschlaf gestellt.

Hängt es vom Charakter ab, ob ein Baby gut schläft?

„Ungestörter Schlaf wird nicht automatisch mit in die Wiege gelegt“, sagt Schlafmedizinerin Dr. Sandra Overmann, die das Schlaflabor der Kinderklinik im Krankenhaus Porz leitet. Ein großer Teil der Kinder schliefen eigenständig gut, ohne dass die Eltern anleiten müssten. „Es gibt aber auch Babys, die auf dem Gebiet Unterstützung brauchen – so wie andere Kinder eben im motorischen Bereich oder bei der Sprachentwicklung Hilfe nötig haben.“

Nora Imlau im Porträtbild

Nora Imlau ist Journalistin und Autorin. Sie hat vier Kinder und lebt in Baden-Württemberg.

Dass das Schlafverhalten zum Teil vom Charakter abhängt, das bestätigt auch Nora Imlau, sie ist Bestsellerautorin, Erziehungspädagogin und Expertin für bindungsorientierte Elternschaft. „Manche Babys sind von Geburt an relativ autonom und haben eine hohe Selbstregulationsfähigkeit, die legt man einfach ins Bettchen und sie schlafen ein“, sagt sie. Sie würden aber oft völlig zu Unrecht als Beleg genommen, dass das alle Babys schaffen könnten.

Muss ein Baby alleine einschlafen können?

„Die meisten Babys brauchen zum Einschlafen Begleitung und körperliche Nähe, damit sie sich geschützt und geborgen fühlen“, sagt Nora Imlau. Das zeigten Kinder auch durch ihr Verhalten: „Sind sie müde, werden sie anhänglich und kuscheln sich an.“ Das Nähebedürfnis von Kindern sei in den ersten drei, vier Lebensjahren sehr groß. Begleitung bräuchten viele Kinder beim Einschlafen bis ins Kindergartenalter. „In unserer Kultur ist der Glaubenssatz verankert, dass Babys zur Selbständigkeit erzogen werden und von Anfang an alleine einschlafen müssen, das ist aber nicht die Schlafbedingung, die die meisten Babys wirklich suchen.“

Sicherer Babyschlaf

Es ist wichtig, im Säuglingsalter eine sichere Schlafumgebung einzuhalten. Auch bei Schlafproblemen sollte keine Situation entstehen, durch die das Baby gefährdet ist. So sollte ein Baby schlafen: - immer in Rückenlage - im Elternschlafzimmer, aber dort im eigenen Bettchen - im Schlafsack und ohne Decke - nicht zu warm – ohne Kopfkissen, Fellunterlage, Kuscheltiere - in einer rauchfreien Umgebung Alle Infos zur Vermeidung des plötzlichen Kindstods auf der Seite www.kindergesundheit-info.de unter dem Thema „Risiken vorbeugen“.

Anders sieht das Schlafmedizinerin Overmann: „Das Schlafenlernen hat auch damit zu tun Selbständigkeit zu entwickeln“, sagt sie, „ein kleiner Mensch sollte Fähigkeiten erwerben, um sich den Schlaf selbst zu ermöglichen.“ Wie jeder Mensch wird auch ein kleines Kind nachts wiederholt kurzzeitig wach und müsse lernen, nach diesen Arousals selbst wieder einzuschlafen. Kleine Hilfsmittel wie Schnuller oder Schnuffeltuch dürfe es schon geben, aber nur wenn das Kind sie selbständig anwenden könne. „Hat ein kleines Kind erst gelernt, zum Beispiel nur an der Brust oder bei Autofahrten einzuschlafen, dann besteht die Gefahr, dass es irgendwann nur noch schläft, wenn diese Bedingungen erfüllt sind.“ Man spreche hier von einer „Sleep Association Disorder“.

Wie wichtig sind Einschlafrituale?

„Bei allen Kindern, aber vor allem jenen, die zu Ein- und Durchschlafstörungen neigen, ist es wichtig, frühzeitig feste und jeden Tag gleich ablaufende Rituale einzuführen“, sagt Sandra Overmann. Das schaffe für ein Kind Verlässlichkeit, damit es sich zur Schlafenszeit entspannen könne. „Wenn jeder Abend anders abläuft, dann gibt es keine Struktur und das Kind weiß nie, wann Schlafenszeit ist.“ Ein sehr gutes schlafförderndes Ritual sei zum Beispiel das Lesen oder Erzählen einer Gute-Nacht-Geschichte. „Neben der Sprachförderung erfährt das Kind durch den engen Körperkontakt und die intensive Interaktion mit den Eltern eine wertvolle 'Quality Time'.“ Abzuraten sei, zum Einschlafen Filmchen zu zeigen. „Medienkonsum ist absolut schlafverhindernd. Die Kinder nehmen die animierten Stimmen und Bilder mit in den Schlaf.“ Das Abendritual solle dann in einem Zustand enden, in dem das Kind zwar müde und entspannt, aber noch wach sei – damit es die restlichen kleinen Schrittchen Richtung Schlaf alleine gehen könne.

Buchtipp

Cover des Buches „Schlaf gut, Baby!“

Nora Imlau/Herbert Renz-Polster: „Schlaf gut, Baby! Der sanfte Weg zu ruhigen Nächten“, Gräfe und Unzer, 2020 (8. Auflage)

„Die Sache mit den Routinen ist in Deutschland beliebt“, sagt Nora Imlau, „sie sind aus dem Wunsch heraus entstanden, Kindern Sicherheit zu geben, ohne dafür selbst körperlich anwesend sein zu müssen.“ Anstatt das Baby im Arm zu halten, bis es schlafe, gebe man ihm immer die gleiche Spieluhr und hoffe, dass es dann alleine einschlafe. „Das funktioniert allerdings bei den allermeisten Kindern nicht. Babys suchen Sicherheit, keine Rituale.“

Darf man sein Kind schreien lassen, bis es schläft?

Im bekannten Schlafratgeber „Jedes Kind kann schlafen lernen“, dessen Tipps noch vor einigen Jahren viele Eltern in Deutschland ausprobierten, wird das Schreienlassen in kleinen Dosen in Kauf genommen. Ziel der so genannten „Ferber-Methode“, auf der das Buch basiert, ist es, dem Kind beizubringen, alleine einzuschlafen. Um das zu üben, sollten Eltern wiederholt ins Zimmer gehen, wenn das Baby schreit, aber die Abstände nach festem Muster verlängern – bis es sich daran gewöhnt, dass keiner kommt und alleine einschläft. Praktisch bedeutete das, dass sich viele Babys in den Schlaf geschrien haben. Heute ist die Methode teilweise umstritten und auch nicht mehr im Trend.

„Wenn ein Kind weint und schreit, ist es nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu lernen, sondern es hat Panik“, sagt Nora Imlau dazu. Ein weinendes Kind sei immer in Not, es heule nie aus Trotz oder Spaß. „Bekommt es dann Trost und Rückversicherung von den Eltern, kann sich sein überreiztes Nervensystem beruhigen. Passiert das nicht, dann resigniert es irgendwann, erschöpft und verzweifelt.“ Die Erfahrung, dass trotz Not niemand komme, präge die Psyche des Kindes und erschüttere sein Vertrauen in die Welt und die Eltern-Kind-Beziehung.

„Ein Kind einfach nur zur Abhärtung weinen und schreien zu lassen, da bin ich natürlich absolut dagegen“, sagt Sandra Overmann. Die Ferber-Methode wendeten sie im Schlaflabor äußerst selten und dann nur in einer sehr modifizierten Form an. „Das Prinzip dahinter, immer länger hinauszuzögern, das Bedürfnis des Kindes zu erfüllen, finde ich aber nicht grundlegend falsch.“ Dafür ein festes Zeitraster vorzugeben, wie es im Buch empfohlen werde, das sei für viele Familien aber nicht praktikabel. In der Klinik passten sie die Methode wenn dann individuell an.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wo sollten Eltern bei der Einschlafbegleitung Grenzen setzen?

Was tun Eltern nicht alles, um das Kind zum Einschlafen zu bewegen – oft über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus. Wann und wie sollten sie Stopp sagen? „Eltern müssen erst einmal für sich Klarheit finden, wo sie Grenzen setzen wollen“, sagt Sandra Overmann, „nicht nur in Bezug auf die Einschlafsituation, sondern auch was allgemeine Erziehungsregeln betrifft.“ Diese sollten sie dann konsequent tagsüber und nachts umsetzen.

„Viele Eltern sind ungeduldig und wollen abends keine halbe Stunde neben dem Bettchen sitzen“, sagt Nora Imlau. Sie empfänden die Einschlafbegleitung eher als Last. Das sei aber eine Frage der Perspektive. „Kinder brauchen diese Zeit eben. So wie wir jeden Tag eine Stunde fürs Wickeln und Essenmachen verwenden, gehört auch die Einschlafbegleitung zum Elternsein dazu.“

Eine Familie lebe aber immer von der Balance aller Bedürfnisse. „Eltern dürfen immer etwas an der Schlafsituation ändern, wenn es sie belastet“, sagt Imlau. „Sie sollten aber eine Lösung finden, bei der das Urbedürfnis des Babys nach Nähe noch erfüllt wird.“ Ein Familienbett könne für manche Familien eine gute Idee sein, weil Kinder dann häufig besser schliefen oder leichter beruhigt werden könnten. Grundsätzlich könnten sich die Eltern bei der Babybetreuung auch abwechseln oder Hilfe aus dem Familien- oder Freundeskreis holen. „Keine Sorge, wenn das Kind dann nach Mama brüllt – es ist ja jemand bei ihm.“ Auch wenn das nächtliche Stillen zu sehr belaste, könne die Mutter irgendwann abstillen und das Baby anders beruhigen. „Haben die Eltern in einem Moment gar keine Kraft mehr für Einschlafhilfen, ist es auch vollkommen okay, sich einfach nur mit dem Kind ins Bett zu legen und nichts zu machen, selbst wenn es weiter schreit – Hauptsache es ist nicht allein.“

Was kann man tun, wenn das Baby schlecht schläft?

„Immer empfehlenswert bei Ein- und Durchschlafstörungen ist es, über etwa drei Wochen ein Schlaf-Wach-Protokoll zu führen“, sagt Sandra Overmann. Darin protokolliere man die 24 Stunden eines Tages, die Besonderheiten und Schlafzeitpunkte. „Eltern erkennen oft Zusammenhänge, die sie eigenständig beheben können, was sich positiv auf das Schlafverhalten auswirkt.“ Auch eingefahrene Schlafbedingungen ließen sich wieder aufbrechen. „Schläft das Kind nur ein, wenn seine Hand gehalten wird, können Eltern im ersten Schritt die Hand nur kurz halten und sich daneben legen, im zweiten Schritt ohne Körperkontakt neben dem Bett sitzen, dann nur noch im Zimmer sein und so weiter.“

„Eltern sollten keine Angst haben, dass das Kind von ihnen abhängig wird, sondern sensibel auf die Zeichen des Babys achten und schauen, was im Hier und Jetzt funktioniert“, sagt Nora Imlau. „Kinder entwickeln sich so schnell, man kann jeder Zeit etwas wieder abgewöhnen.“ Viele Kinder schafften den Absprung von der Einschlafbegleitung im Alter von zweieinhalb oder drei Jahren. Eine Schlafentwicklung sei aber nicht linear, auch ältere Kinder bräuchten immer mal die Nähe der Eltern, um gut zu schlafen, wenn sie verunsichert seien oder eine neue Situation anstehe.

Schläft jedes Kind irgendwann gut?

„Haben Kinder in der Kleinkindphase eine Schlafstörung entwickelt, gibt es leider keine Garantie, dass alle das auch irgendwann wieder ablegen. Mit liebevoller und angemessener Unterstützung bestehen aber große Chancen, das Problem mittelfristig in den Griff zu kriegen“, sagt Sandra Overmann. In anderen Lebensphasen, etwa in der Pubertät, kämen jedoch neue Einflüsse dazu, die das Schlafverhalten erneut negativ beeinflussen könnten. „Es gibt sicherlich Menschen, die dafür anfälliger bleiben.“

Rundschau abonnieren