Kölner Kinderärztin„Uns droht ein kollektiver Mutter-Burnout“

Lesezeit 7 Minuten
Kinderärztin Dr. Karella Easwaran

Dass viele Mütter heute am Ende ihrer Kräfte sind, hat auch mit der Gesellschaft zu tun, sagt die Kinderärztin Dr. Karella Easwaran.

  • Nicht erst seit der Corona-Krise sind Mütter an allen Fronten stark gefordert und zerreiben sich ständig, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
  • Die Kölner Kinderärztin Dr. Karella Easwaran erlebt jeden Tag, wie Mütter unter der Dauerbelastung leiden.
  • Im Interview erzählt die Medizinerin, warum es die Gesellschaft Müttern heute so schwer macht. Und wie die sich selbst stärken können, um besser durch den Alltag zu kommen.

Jeden Tag treffen Sie in Ihrer Kölner Kinderarztpraxis ganz unterschiedliche Mütter. Wie geht es den Mamas in der Region? Karella Easwaran: Viele Mütter haben gerade eine schwere Zeit. Sie sind unsicher, weil die Planbarkeit der Kinder sowie die Betreuungs- und Arbeitssituation unberechenbar geworden sind. Berufstätige Mütter sind häufig am Ende ihre Kräfte. Manche bangen um ihren Job, weil die Wirtschaftslage schwach ist, oder haben verärgerte Arbeitgeber, die nicht verstehen, wenn Kinder zum wiederholten Male mit Schnupfen von der Kita abgeholt werden müssen. Angst, Überforderung und Sätze wie „Wie soll ich das bloß schaffen?“ höre ich oft in meiner Praxis und denke: Wenn wir nicht aufpassen, droht uns ein kollektiver Burnout der Mütter. Aber wenn sie als Stütze wackeln, verlieren auch die Kinder das Gleichgewicht.

Aber auch schon vor Corona waren viele Mütter stark belastet – warum?

Mütter müssen heute viele Dinge gleichzeitig leisten. Selbst wenn sie erwerbstätig sind, übernehmen sie den größten Teil der Kinderbetreuung. Laut eines Familienberichts von 2018 investieren Mütter täglich mindestens vier Stunden mehr Arbeit als ihre Männer in den Haushalt, die Bildung der Kinder und die Betreuung weiterer Familienangehöriger. Sie sind dazu sehr bemüht und oft unzufrieden und gestresst, wenn es ihnen nicht gelingt, alles zu schaffen. Denn um sie herum gibt es ja immer welche, die „anscheinend“ alles mit links regeln.

Liegt der Fehler auch im System?

Ja. Die Gesellschaft hat noch ein altes Bild von den Müttern. Sie werden oft als inkompetent und nervig dargestellt. Häufig werden sie sogar diskriminiert. Gerade die Alleinerziehenden erfahren viel negative Resonanz. Sie werden gemobbt oder gar nicht wahrgenommen. Eine dreifache alleinerziehende Mutter auf Job- oder Wohnungssuche hat schlechte Karten. Oft müssen Frauen einen Job annehmen, für den sie überqualifiziert sind oder weniger Geld bekommen.

Dazu kommt auch die anhaltende Abneigung und Intoleranz der Gesellschaft Kindern gegenüber. Dabei werden die Kleinen die Gesellschaft später nicht tragen können, wenn sie selbst nicht getragen wurden. Und es sind die Mütter, die die Kinder und die Familien tragen – und damit die Gesellschaft! Damit sind sie höchst systemrelevant. In der Corona-Krise wurde zurecht für so viele geklatscht – aber wer klatscht eigentlich für die Mütter? Sie brauchen ein neues Standing und ein neues Selbstbewusstsein. Und sie müssen kollektive Stärke demonstrieren und gemeinsam für ihre Rechte einstehen.

Kinderärztin Dr. Karella Easwaran

Dr. Karella Easwaran hat eine Kinderarztpraxis in Köln-Sülz. Schon in ihrem ersten Buch „Das Geheimnis gesunder Kinder: Was Eltern tun und lassen können“ (2018) hat sie sich mit den Nöten von Eltern auseinandergesetzt.

Wie könnte man den Müttern ganz konkret helfen, besser durch den Alltag zu kommen?

Gesellschaft und Politik müssen sich die Themen Familie, Eltern und Mütter noch intensiver vornehmen. Das muss eingefordert werden. Weil sich aber gesellschaftliche Strukturen oft nur langsam und schwer ändern lassen, können Mütter anfangen, ihren Fokus stärker auf sich selbst und ihre eigene Stärke zu richten. Um in einer Partnerschaft, gegenüber den Kindern oder dem Arbeitgeber klare Ansagen machen zu können, müssen Mütter an ihrem Selbstwertgefühl und ihrem Selbstbewusstsein arbeiten. Und das geht nur, wenn sie es schaffen, aus ihrer Stressspirale zu flüchten. Das fängt mit einer Selbstreflektion und mit der Frage an: „Was will ich und was wollen wir gemeinsam als Familie?“

Aber wie kommt die Mutter da hin? In Ihrem Buch sagen Sie, dass alles mit den eigenen Denkmustern anfängt…

Zum aktuellen Buch

In ihrem Buch „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ (Kösel Verlag, 2020) zeigt Dr. Karella Easwaran, wie Mütter durch neue Denkstrategien leichter und gesünder durch den stressigen Familienalltag kommen.

Man muss lernen, vorteilhaftes von unvorteilhaftem Denken zu unterscheiden. In meinem Buch erkläre ich, wie man dafür die „Beneficial Thinking Methode“ einsetzen kann. Diese Denkmethodik hilft einem, Gedanken zu sortieren und dann sinnvoll umzusetzen. Damit lässt sich sehr viel Energie sparen.

„Falsches“ Denken verursacht aber nicht nur Stress, sondern es ist gleichzeitig auch für die meisten Zivilisationskrankheiten verantwortlich, wie zum Beispiel Burnout, Übergewicht, Bluthochdruck und Herzkreislauf-Erkrankungen. Jedes Mal wenn wir wütend oder frustriert sind, werden Stoffe ausgeschüttet, die unserem Körper langfristig schaden. Dauerstress ist sozusagen das träufelnde Gift im Körper. Denkmuster zu ändern bedeutet also, gesünder zu leben. Gleichzeitig bringt es auch mehr Wohlbefinden und Glücksgefühle. Und man kann so auch leichter Ziele erreichen.

Können Sie das an einem typischen Beispiel aus dem Mütterleben beschreiben?

Nehmen wir an, eine Mutter muss dringend ein Projekt am Arbeitsplatz fertigstellen und der Kindergarten ruft an. Was passiert in diesem Moment? Schon wenn sie die Telefonnummer auf dem Display sieht, befällt sie eine leichte Übelkeit, ihr Herz beginnt zu rasen. Es könnte ja etwas mit dem Kind passiert sein.

Was in dieser Minute sofort hilft, ist, dem Körper „Stopp“ zu sagen und tief einzuatmen. Damit bremst man die Ausschüttung von Stresshormonen automatisch für kurze Zeit. Denn im Stresszustand können wir nicht denken – die Natur hat es so eingerichtet, dass wir dann mit Kampf oder Flucht reagieren.

Während des Gesprächs kann die Mutter dann ihre Gedanken sortieren. „Was ist passiert? Was muss ich tun? Wenn ich das Telefonat beende, werde ich nicht verzweifelt agieren, sondern überlegen, wie ich das Problem am besten angehe.“

Das ruhigere Vorgehen verursacht auch direkt weniger Wirbel am Arbeitsplatz. Schon wird vernünftiger kommuniziert, Vorgesetzte und Kollegen unterstützen eher. Jetzt kann die Mutter ruhigen Gewissens und ohne Selbstzweifel ihr Kind abholen, muss sich nicht rechtfertigen. Sie kommt aus der Opferrolle raus und erlangt sofort einen anderen Status.

Wie schwierig ist es, solche Verhaltensweisen zu üben?

In einer akuten Situation das eigene Stresssystem nicht einzusetzen und ruhig zu reagieren, gelingt vielleicht nicht von Anfang an, man muss es tatsächlich üben. Aber es ist auch gar nicht so schwer. Grundsätzlich sollten wir als Eltern wissen, dass das Leben mit Kindern immer mit Herausforderungen verbunden ist. Wir müssen lernen, damit umzugehen und die Probleme zu lösen.

Aber auch im normalen Alltag geht es darum, einen Plan zu haben und klare Ziele für den Tag zu setzen. Wir entscheiden dann, wo wir Prioritäten setzen und was genau wichtig ist. Damit gewinnen wir Mütter mehr Zeit für Dinge, die uns gut tun. Wir können und sollten unseren Perfektionsanspruch auch mal ignorieren, etwas lässiger sein. Das macht auch viel mehr Spaß – und genau diese Freude brauchen wir. Glücklich sein ist eine Lebensnotwendigkeit.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wie könnten das Familien umsetzen, die wegen Corona viel zuhause sitzen müssen?

Die Corona-Zeit ist eine Ausnahme-Situation. Und da müssen auch Familien ihr Tempo drosseln. Es zählen die Basis-Dinge. Wenn alle Stricke reißen, sollte man schauen, was wirklich wichtiger ist. Sehr wahrscheinlich muss man dann irgendetwas sein lassen oder absagen – zum Beispiel dem Kind sagen: „Diesen Teil der Hausaufgabe machen wir nicht“ oder dem Arbeitgeber schreiben: „Das liefere ich morgen ab.“ Und Mütter sollten nicht vergessen: Sie dürfen um Hilfe bitten. Das passiert viel zu selten. Und genau das müssen sie sich trauen. Und dabei nicht an sich zweifeln. Diese Entscheidung zu treffen, ist so befreiend.

Was sagen Sie, tun sich Mütter grundsätzlich schwer, etwas an ihrem Verhalten zu verändern?

Jeder Mensch tut sich schwer, sich zu verändern, denn das ist mit viel Arbeit verbunden. Man muss die Veränderung auch wollen. Aber bei neuen Problemen braucht es auch neue Denkmuster, um Lösungen und neue Wege zu finden. Ich kann heute sagen: „Ich bin doch total ausgeglichen!“ Aber das eben nur, bis die nächste Krise kommt. Und sie wird kommen, das Leben verläuft nicht immer glatt. Ich rede hier nicht nur von Corona, sondern von allen möglichen Herausforderungen im Leben – auch von Krankheit oder Verlust. Neuanpassung ist immer schwer.

Brauchen Mütter heute mehr denn je ein „Dorf“, das sie unterstützt?

Ja. Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen die anderen. Manche Mütter wollen beweisen, dass sie alles alleine und besonders gut können. Das Butterbrot für die Kita muss perfekt sein. Der Kindergeburtstag muss etwas Besonderes sein. Es muss alles klappen. Das ist für viele purer Stress. Wenn sie die Möglichkeit haben, etwas an andere abzugeben, dann sollten sie das auch tun. Natürlich vor allem an den Vater, er ist der wichtigste Teil des „Dorfes“. Aber es geht auch um den Zusammenschluss mit anderen Familien, mit Freunden und Nachbarn.

Nicht erst in der Corona-Zeit hat sich gezeigt, dass wir nicht alleine existieren können. Ich empfehle deshalb zum Beispiel den Eltern mit Einzelkind, jetzt schon zu überlegen, wer zum Beispiel eine „Covid-Partnerfamilie“ sein kann, falls ein zweiter Lockdown kommt. Das ist ein gutes Beispiel für neue Denkmuster: Nicht frustriert zu sein über die Situation, sondern Lösungen zu suchen und kreativ zu werden. Und ein wichtiger Punkt dabei ist, die anderen Menschen mit einzubeziehen. So schlimm diese Pandemie auch ist, wir müssen sie als Chance nutzen, um uns als Gesellschaft neu zu definieren und zu bewegen.

Rundschau abonnieren