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Magersucht bei Mädchen„Seit Corona sind die Wartelisten in der Uniklinik explodiert“

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Die Kontrolle des Körpergewichts gibt vielen Mädchen das Gefühl von Selbstwirksamkeit. 

Köln – Die Nahrungsaufnahme zu kontrollieren, möglichst wenig zu essen und so immer dünner zu werden, ist für viele Frauen und Mädchen nicht nur eine Maßnahme, um dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Ins Extreme gesteigert ist die Verweigerung von Essen auch eine Kompensation für negative Gefühle und eine Möglichkeit, Kontrolle zu erlangen. Dieses Gefühl von Kontrolle haben vor allem Mädchen in der ungewissen Corona-Zeit offenbar besonders nötig. Seit dem Beginn der Pandemie vor mehr als einem Jahr haben sich die Fälle von Magersucht gesteigert.

Magersucht und Isolation verstärken sich gegenseitig 

„Wir bekommen sehr viele Anrufe, vor allem in den vergangenen Wochen. Darunter sind deutlich mehr Fälle von Anorexie, also Magersucht, aber auch einige Bulimie-Erkrankte“, sagt Maria Spahn, Leiterin der Landesfachstelle Essstörungen NRW. Die Ärztin für Psychiatrie vermutet – und hört dies auch von den Hilfesuchenden – dass die Zunahme mit den Belastungen der Corona-Zeit zusammenhängt: „In einer Zeit, in der überall Ängste und Unsicherheiten präsent sind, versuchen die Betroffenen, über die Kontrolle des Körpergewichts Struktur und Halt zurück zu gewinnen. Durch das Abnehmen können sie das Gefühl bekommen, selbst etwas zu bewirken.“ Die dauerhafte Isolation verstärke die Krankheit zudem. Menschen mit Essstörungen neigten dazu, sich zurückzuziehen. „In der Therapie setzen wir normalerweise genau da an und versuchen, die Patientinnen zurück in das Leben und in Kontakt zu bringen. Aber genau das geht jetzt nicht“, sagt Spahn.

„Die Warteliste in der Klinik ist explodiert“

Professor Stephan Bender ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln. Auch er hatte im vergangenen Jahr deutlich mehr Fälle von Magersucht in seiner Klinik zu verzeichnen. Kollegen von anderen Kliniken hätten diese Erfahrung bestätigt. „Wir haben ungefähr ein Drittel mehr Anfragen als normalerweise. In der Station haben wir sonst sechs Betten für Patienten mit Essstörungen, momentan bräuchten wir stattdessen gut zehn. Die Warteliste dafür ist explodiert, der Aufnahmedruck enorm. Wir versuchen das über ambulante Termine oder Videosprechstunden aufzufangen. Zum Wiegen und zur Kontrolle müssen die Patientinnen und Patienten dann aber trotzdem in die Klinik kommen“, erzählt er.

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Hier finden Sie Hilfe bei Essstörungen

Die Spezialambulanz Essstörungen der Uniklinik Köln berät Betroffene und Eltern per Videosprechstunde oder ambulant.  

Weitere Beratungsstellen finden Sie hier:  Angebote der Stadt Köln  Landesfachstelle Essstörungen NRW  Frauenberatungsstelle  Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LVR-Klinikum Essen-Duisburg

Allgemeine Informationen:  Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Deutsche Gesellschaft für Essstörungen e.V.

Auch der Schweregrad der Krankheit hat zugenommen

Vor allem Mädchen und junge Frauen seien betroffen, zum Teil schon vor Beginn der Pubertät ab etwa zehn Jahren. Die meisten Patientinnen seien zwischen 13 und 17 Jahre alt. Nicht nur die Menge, auch der Schweregrad der Krankheit habe zugenommen: „Die Patientinnen kommen in einem schlechteren Zustand als vorher.“ Für Bender könnte ein möglicher Grund dafür im Verlust der sozialen Rhythmen liegen, weil Schule und Hobbys komplett weg fallen. „Außenkontakte steuern den Tagesrhythmus und das Essverhalten zu einem ganz großen Teil mit. Zudem fehlt die Wächterfunktion: Wenn die Patientinnen nur alleine zuhause sind, fällt keinem auf, wie dünn sie geworden sind“, erklärt Bender.

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So erklärt er sich auch die zeitliche Verzögerung der Anfragen. In der ersten Welle vor einem Jahr habe es noch nicht so viele Fälle gegeben. Die meisten Menschen seien da noch resilient gewesen. Im Laufe des Jahres habe sich aber so viel angestaut, dass auch klinische Manifestationen zugenommen hätten. Seitdem sei die Zahl der emotionalen Störungen wie Angststörungen oder Depressionen insgesamt stark gestiegen. „Das sind die Störungen, die am meisten auf Stress ansprechen und für die ein Wegfall sozialer Strukturen extrem ungünstig ist“, sagt Bender.

Der Lockdown bedeutet für manche auch weniger Druck

Prof. Martin Teufel hat auch noch eine andere Beobachtung gemacht. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen e.V. und Direktor der Klinik Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LVR-Klinikum Essen Universität Duisburg-Essen, wo hauptsächlich Erwachsene mit Essstörungen behandelt werden. Bei manchen Patientinnen, die bereits wegen einer Essstörung stationär behandelt wurden, habe sich die Krankheit verschlechtert. Auf der anderen Seite gebe es aber auch Patientinnen, bei denen sich seit den Corona-Restriktionen die Krankheitssymptome verringert hätten. Teufel führt das auf weniger Druck in der Uni, bei der Arbeit und im sozialen Bereich zurück. „Die Patientinnen sind nicht so sehr im Hamsterrad wie sonst und müssen sich und ihre Leistung weniger vergleichen. Auch essen die meisten Magersüchtigen nicht gerne in Gesellschaft und haben wenig Bedarf nach viel sozialer Interaktion, da kommt ihnen die Isolation jetzt entgegen“, erklärt er.

Dennoch habe sich der Bedarf auch in der LVR-Klinik erhöht. „Warum das so ist, lässt sich nicht genau sagen, dazu gibt es keine Zahlen. Vielleicht entscheiden sich jetzt mehr Menschen für eine Therapie, weil sie mehr Zeit haben als vorher“, vermutet er. Und weiter: „Natürlich spielen Kontrolle und Perfektionismus bei Magersucht eine Rolle. Ich glaube aber, dass andere Dinge als der Corona-Stress eine größere Relevanz auf die Krankheit haben. Die Patienten reagieren eher auf sozialen Druck, Stress in der Partnerschaft oder Ärger am Arbeitsplatz und fühlen sich oft für alles verantwortlich. So individuell wie die Ursache für die Essstörung ist auch der Einfluss von Corona auf sie.“

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