Trinkende Mütter„Mit dem Wein habe ich das Gefühl, endlich etwas für mich zu tun“

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Einige Mütter versuchen, sich mithilfe von Wein von ihren täglichen Aufgaben zu entspannen. 

Köln – „Manchmal kann ich es nachmittags auf dem Spielplatz gar nicht abwarten, bis es endlich 18 Uhr ist und wir wieder zuhause sind. Dass ich keine anderen Mütter mehr um mich habe, mein Mann die Kleine übernimmt und ich mir endlich einen Wein aufmachen kann. Ich liebe diese Zeit, denn das ist die einzige Zeit des Tages, die ich für mich habe.“ Für Miriam (Name geändert) ist diese Wein-Zeit am Abend sehr wichtig. Und zwar jeden Abend. Sie ist nicht die einzige Mutter, die regelmäßig Alkohol trinkt.

Während es früher eher die Väter waren, die sich nach Feierabend ein Bier aufmachten, sind es heute immer mehr Mütter, die trinken. Und sie tun es ganz offen. Dass Frauen Alkohol nutzen, um sich für eine Weile aus ihrem stressigen Leben auszuklinken, ist nicht neu, wurde aber bisher eher im Verborgenen erledigt. In den 1950er-Jahren etwa war „Frauengold“ sehr beliebt. Das sogenannte Herz-Kreislauf-Tonikum sollte Frauen „jugendlichen Schwung an allen Tagen“ verschaffen, die weibliche Lust entfachen und für einen stressfreien Alltag sorgen. Verkauft wurde das „Stärkungsmittel“ rezeptfrei in Drogerien und Apotheken – dass es 16 Volumen-Prozent Alkohol enthielt, wurde nicht groß thematisiert.

Spätestens seit Corona wird ganz offen unter dem Hashtag #winemom getrunken

Diesen Hintenrum-Rausch haben Frauen und Mütter heute nicht mehr nötig. Spätestens seit dem ersten Corona-Lockdown zeigen sich trinkende Mütter auf Instagram und anderen sozialen Medien ganz offen, meist unter den Hashtags #winemom oder #mamaneedswine.

Den passenden Witz dazu gab es natürlich auch: „Wenn Sie denken, 2020 ist gefährlich: 2050 wird das Land von Kindern geführt, die von Wein trinkenden Müttern zu Hause unterrichtet wurden.“ In der Corona-Zeit schien es entweder die Mütter zu geben, die sich über die viele zusätzliche Zeit mit ihren Kindern freuten oder die, die ihre Überforderung mit Weißwein wegspülten.

Wie nah dieser und andere Witze an der Wirklichkeit waren, bewies im August 2021 das amerikanische Forschungsinstitut RTI International mit einer Studie zu den veränderten Trinkgewohnheiten der Amerikaner während der Pandemie. Mütter mit Kleinkindern hatten demnach ihren Konsum um 300 Prozent erhöht.

Auch in Deutschland wurde mehr getrunken, wie der jüngst erschienene Alkoholatlas 2022 vermeldet. Personen mit riskantem Alkoholkonsum und Frauen tranken während des Lockdowns verstärkt – wie viele davon Mütter sind, ist nicht differenziert.

Auf Instagram feiern sich die Wine-Moms selbst

Zwei Jahre später mag der Alltag zwar nicht mehr ganz so desolat sein, Mütter trinken aber immer noch, um aus ihm zu entfliehen. Unter dem Hashtag #winemom finden sich aktuell bei Instagram 92.000 Beiträge, daneben gibt es viele weitere Posts mit ähnlichen Hashtags. Man sieht dort unter anderem Frauen mit Weinglas in der Hand und dem T-Shirt „Mama needs wine“, die ihren sogenannten Winedown genießen.

Die Online-Community „PourParenting“ richtet sich ausdrücklich an „beschäftigte Mütter, die Wein und Humor mögen“. Hält man sich hier länger auf, bekommt man leicht den Eindruck, dass es ganz normal ist, dass Mütter trinken, weil die Belastungen sonst einfach nicht auszuhalten wären. Es gibt auch einen eigenen Podcast zum Thema. Zwischen die Posts schmuggeln sich zwar immer wieder solche, die dazu ermuntern, für die Kinder und auch für sich selbst nüchtern und klar zu bleiben. Dennoch dominiert hier der Eindruck: Das Glas Wein (oder die Flasche) ist flüssige Zeit für sich selbst, die Mütter sich verdient haben.

Die Psychologin Julie Patock-Peckham von der Arizona State University ist sich sicher, dass Stress und Alkoholkonsum eng miteinander verbunden sind. Bei einer Untersuchung in einer simulierten Bar fand sie heraus, dass Frauen mehr trinken als Männer, wenn sie zuvor Stress erlebt hatten. (Wie die Untersuchung genau ablief, können Sie hier nachlesen.)

Hier finden Sie Hilfe

Blaues Kreuz Köln Piusstraße 101 50823 Köln 0221/527979 bkz-koeln@blaues-kreuz.de

Anonyme Alkoholiker Zentrale Beratung: 08731/32573 12 (täglich von 8 Uhr bis 21 Uhr). Auf der Seite www.anonyme-alkoholiker.de finden Sie eine Karte, auf der die Treffpunkte der Gruppen aufgeführt sind.

Kölner Suchthilfe e. V. Telefonische Beratung: 02234/6806291 www.koelnersuchthilfe.de

Kreuzbund DV Köln e. V. Selbsthilfegruppe für Suchtkranke und Angehörige 0221/2722785 www.kreuzbund-dv-koeln.de

Tipps, um sich auf anderen Wegen zu entspannen, finden Sie bei www.kenn-dein-limit.de

Kostenlose Broschüre zum Thema alkoholfrei leben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zu bestellen über www.shop.bzga.de.

Podcast und Blog „Ohne Alkohol mit Nathalie“ von Nathalie Stüben mit vielen hilfreichen Tipps: www.oamn.jetzt

Deutscher Frauenbund für alkoholfreie Kultur: Selbsthilfeverband für Frauen, die selbst oder als Angehörige von einer Suchterkrankung betroffen sind: www.deutscher-frauenbund.de

Nacoa, Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien: www.nacoa.de

Mit dem Wein am Abend steigen die Mütter aus dem Funktionieren aus

Miriam nennt ebenfalls Stress als Hauptgrund für ihre Trinkerei, aber auch den Wunsch, nicht mehr funktionieren zu müssen. Sie trinkt so gut wie jeden Abend mehrere Gläser Wein und sagt: „Der ganze Tag ist fremdbestimmt. Kind, Kollegen, Freunde, Mann: Alle wollen was von mir. Wenn ich abends den Wein aufmache, habe ich das Gefühl, endlich etwas für mich zu tun. Ich genieße diese Zeit“, erzählt sie. Auch Katharina (Name ebenfalls geändert) hat einen Sohn, arbeitet und trinkt jeden Abend Wein, genau wie Miriam am liebsten alleine. Der Alkohol entspannt sie, lässt sie den stressigen Tag vergessen. Sie selbst nennt das „die Gondel aushängen“ und sagt: „Ich liebe diese Abende alleine in der Küche. Manchmal tanze ich sogar.“

Beide Frauen ahnen, dass Alkohol eine zu große Rolle in ihrem Leben spielt, würden sich aber nicht als Trinkerinnen bezeichnen. Denn das sind in ihren Augen – wie übrigens für viele andere Menschen auch – diejenigen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen, den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und sich nicht um die Kinder kümmern. Sie aber sehen gut aus, sind gepflegt und sozial, haben tolle Jobs und tolle Familien. An der Oberfläche läuft bei ihnen alles super. Trotzdem haben sie den Drang, jeden Abend mit ein paar Gläsern Wein für einige Stunden aus ihrem Leben auszusteigen. Kater, Müdigkeit und gesundheitliche Risiken nehmen sie in Kauf.

Alkohol kann auch Depressionen und Unruhe auslösen

Dabei ist Alkohol nicht nur enorm schädlich für den Körper, sondern auch für das Gemüt. Zunächst dämpft Alkohol zwar die Erregbarkeit bestimmter Nervenzellen und wirkt dadurch entspannend. Auf die Dauer passiert jedoch das Gegenteil. Mit zunehmender Gewöhnung sinkt die Fähigkeit, belastende Situationen durchzustehen und zu verarbeiten, warnt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Auf lange Sicht werden somit durch Alkoholkonsum Belastungen, Spannungen oder Depressionen noch verstärkt. Ein Teufelskreis entsteht: Trinken gegen die Traurigkeit, noch mehr Traurigkeit durchs Trinken.

Jeden Abend betrunken die Kinder ins Bett gebracht

Eine Entwicklung, die die britische Schriftstellerin und Bloggerin Clare Pooley nur zu gut kennt. Sie hat drei Kinder und war eine von den Müttern, die den Abend kaum abwarten können, um endlich einen Wein aufzumachen und „Zeit für sich“ zu haben.

Zum Weiterlesen

Clare Pooley: Chianti zum Frühstück. Wie ich aufhörte zu trinken und anfing zu leben, Beltz-Verlag, 375 Seiten, 12 Euro Ebenfalls interessant: Clare Pooleys Blog „Mummy was a secret drinker“  www.mummywasasecretdrinker.blogspot.com (auf Englisch) 

Eva Biringer: Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen, HarperCollins, 352 Seiten, 18 Euro. Eva Biringer schreibt aus eigener Perspektive über junge, erfolgreiche Frauen, die trinken und aufhören. 

Nathalie Stüben: Ohne Alkohol. Die beste Entscheidung meines Lebens. Erkenntnisse, die ich gern früher gehabt hätte, Kailash-Verlag, 192 Seiten, 16 Euro. Die Journalistin hat jahrelang exzessiv getrunken und dann endlich aufgehört. 

Andreas Winter: Die Sache mit dem Alkohol. Genuss ohne Abhängigkeit ist möglich: Warum wir trinken und wie wir unsere Gewohnheiten ändern können, Mankau-Verlag, 190 Seiten, 18 Euro

Betty Friedan: The Problem that has no name, Penguin Modern, 64 Seiten, 6,30 Euro. In diesem Buch geht es um Rollenzuweisungen für Frauen und Suchtverhalten (auf Englisch). 

Allen Carr: Endlich ohne Alkohol! frei und unabhängig. Der einfache Weg, mit dem Trinken Schluss zu machen, Goldmann-Verlag, 322 Seiten, 9,99 Euro

In ihrem Buch „Chianti zum Frühstück“ erzählt sie entwaffnend ehrlich, wie oft sie betrunken die Kinder ins Bett brachte und sie am nächsten Tag verkatert anmeckerte. Wie sie immer wieder gegen die Traurigkeit antrank und sich doch nie besser fühlte. Sie hielt das alles für normal und glaubte fest daran, dass ihr der abendliche Wein Entspannung bringen würde. Bis sie sich eines Tages dabei beobachtet, wie sie sich morgens gegen den Kater einen Rest Chianti in die Kaffeetasse schüttet (daher der Buchtitel) und erkennt: „Ich bin eine Trinkerin und muss aufhören.“

Sie startet den Blog „Mummy was a secret drinker“ und lässt ihre Leser daran teilhaben, wie schwierig es für sie ist, keinen Wein mehr zu trinken. Nach und nach entsteht eine Dokumentation des Nüchternwerdens, die nie belehrend oder überheblich ist. Pooley schwärmt einfach nur davon, wie schön es ist, ohne Kopfschmerzen aufzuwachen, wie viel angenehmer sie jetzt die Zeit mit ihren Kindern findet und dass sie weniger Selbstzweifel und Ängste hat. Leicht ist ihr das nicht gefallen, sie bezeichnet das ständige Verlangen als „Weinhexe“, die ihr immer wieder zuflüstert: „Du hattest einen harten Tag, du hast dir das Glas verdient!“ Die Weinhexe wird für Pooley zur größten Feindin. Bis sie irgendwann merkt: „Je weniger Wein ich trank, desto weniger Kraft hatte die Weinhexe. Und irgendwann hielt sie komplett den Mund.“

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