Vergessene Benachteiligung„Kompliziert bleibt es für Arbeiterkinder eigentlich immer“

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Ein zehn Jahre altes Mädchen steht in abgetragener Kleidung ohne Schuhe in einem Hinterhof. Nicht jedes Kind hat die gleichen Chancen.

  • Die Begriffe „Rassismus“ und „Sexismus“ fanden im vergangenen Jahrzehnt in erstaunlichem Tempo ihren ihren Weg in die breite öffentliche Debatte.
  • „Klassismus“ hingegen kennt nicht einmal der Duden. Dabei gibt es den Begriff seit mehr als 100 Jahren. Er beschreibt die Benachteiligung durch Herkunft oder Position.
  • Zwei „Arbeiterkinder“ berichten über ihre Erfahrungen beim Aufstieg zum „Akademikerinnen“, der an vielen Stellen schmerzhaft verlief – und es heute noch ist.

Köln – Wer über Diskriminierung spricht, spricht über Rassismus und Sexismus. So zumindest das Muster der vergangenen Jahre: Die #metoo-Debatte fand schnell ihren Weg in die breite Öffentlichkeit und warf Fragen nach der Gleichstellung der Geschlechter mit einer neuen Dringlichkeit auf. Die #BlackLivesMatter-Bewegung wendet sich nun mit neuer Wucht gegen rassistische Strukturen, die sich in gefilmter Polizeigewalt erschütternd plakativ ausdrückt. Beide Begriffe, Rassismus und Sexismus, erscheinen heute als dauerpräsent, nicht wegzudenken, Abgrenzungen von ihnen prägen die politische Kommunikation. Den Begriff „Klassismus“ hingegen kennt nicht einmal der Duden. Dabei gibt es ihn seit mehr als 100 Jahren. Der Soziologe Andreas Kemper definiert ihn als „Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft oder Position.“ Kemper ist Arbeiterkind, Akademiker, Publizist. Kurz: Aufsteiger. Er forscht seit Jahren gegen diesen Klassismus an, auch aus persönlichem Interesse. Klassismus sei „die vergessene Benachteiligung.“ Ist das so?

Eine, die es wissen könnte, war früher einmal als Meereskatze verkleidet. Denn das Karnevalsmotto am Kindergarten von Nathalie R. lautete „Meer“. Kreativ, könnte man meinen, aber lieber hätte sie ein anderes Kostüm getragen. Doch das ging nicht, denn ihre Eltern konnten sich kein neues leisten. So musste mal wieder das eine Katzenkostüm herhalten, diesmal umgebastelt. Für ihre selbstgestrickten Pullover und zu großen Schuhe wurde sie gehänselt, für ihr Meereskatzen-Kostüm auch. „Kinder können grausam sein“, sagt die heute 34-Jährige.

Geld war immer ein Thema

Ihre Mutter arbeitete beim Finanzamt, konnte die Familie dank einiger Schreibmaschinen-Kurse über Wasser halten. Ihr Vater war Hausmann, ist früh gestorben. Geld war immer Thema. Eine ständige materielle Not, die fehlende Akzeptanz bei Gleichaltrigen – „Es war schwer, sich auf die Schule zu konzentrieren.“ Umstände, die sich auch in Zahlen ausdrücken: Dem Hochschulbildungsreport zufolge beginnen 21 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten ein Studium, unter den Akademikerkindern sind es 74 Prozent.

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Doch auch Nathalie ist Aufsteigerin. Studierte nach der Schule Soziale Arbeit im Bachelor, später Kultur, Ästhetik und Medien im Master. Heute, sieben Jahre nach ihrem Abschluss, arbeitet sie an ihrer Promotion. „Es fällt mir unglaublich schwer, wieder in die akademische Sprache zu finden.“ Das akademische Milieu ist ihr in vielen Momenten noch immer fremd. Ständig hat sie das Gefühl, mit Formulierungen und Nachfragen anzuecken, nicht reinzupassen in die Welt, in der sie lebt.

„Sprache ist ein krasses Machtmittel“

Parallel zum Studium musste Nathalie immer arbeiten, teilweise hatte sie zwei Jobs parallel. „Dadurch bin ich am Anfang durch einige Prüfungen gefallen.“ Auch „mit formellen Unterlagen, gerade an der Uni, war ich lange total überfordert. So etwas gab es bei meinen Eltern nie.“ Dass ein Drittel der „Arbeiterkinder“ das eigene Studium abbricht (Akademikerkinder: 15 Prozent), überrascht sie nicht. „Sprache ist ein krasses Machtmittel.“ Eines, mit der ihrer Wahrnehmung nach auch an der Uni nach unten getreten wird, von Dozenten und Studenten.

Doch es kann, so ihre Überzeugung, auch anders sein. Gemeinsam mit ein paar Kommilitonen hat sie Anfang des Jahres das „Referat für antiklassistisches Empowerment“ an der Uni Köln gegründet. Die „Arbeiterkinder“ wollen sich hier also „empowern“, neudeutsch und grob zu übersetzen als das Erkämpfen von Selbstbestimmung, die mitunter Chancengleichheit voraussetzt. Hier soll Austausch, Hilfe und Veränderung stattfinden. „Ich habe gemerkt, dass ich nicht die Einzige bin – an der Uni, im Studiengang, wahrscheinlich sogar im eigenen Kurs“, erzählt uns Janina B. Auch sie war an der Gründung beteiligt.

Der Vater erkrankt schwer

Janinas Vita liest sich ähnlich: „In meiner Familie gab es niemanden, der studiert hat. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf im Westerwald. Mein Vater war Maurer in einer großen Firma, das war okay. Meine Mutter war Hausfrau.“ Dann erkrankte ihr Vater schwer. „Dadurch hat sich unsere finanzielle Situation verschärft.“ Als sie 19 wird, stirbt er. „Wir hatten nur die Rente meines Vaters, galten als die Asis im Dorf. Bei Schulfahrten war völlig klar, dass ich zu Hause bleiben muss, bei Urlauben und Freizeitpark-Ausflügen auch – denn wir hatten ein bisschen zu viel Geld für staatliche Zuschüsse. Und doch zu wenig für ein normales Leben.“

Janina merkte schon früh, anders wahrgenommen zu werden. „Unsere Klamotten waren von Kik, alle anderen nicht. Mit Schmuddelkindern wollten und durften die anderen nicht spielen.“ Das hörte nie auf. Dennoch wählte sie den schweren Weg – erst Abitur, dann an die Uni. Kompliziert war es eigentlich immer. Zum Beispiel im Chemie-Leistungskurs: „Die Schule hatte keine Kittel, darum haben wir den Kittel im Baumarkt gekauft, er war preislich einfach günstiger. Es war mit peinlich ihn zu tragen, ich habe ihn nie mit in die Schule genommen und dafür eine schlechtere Note bekommen.“ Einer von vielen großen und kleinen Momenten, die Janina davon überzeugt haben, dass es „an deutschen Schulen keine Chancengleichheit gibt.“

Unmittelbare Auswirkungen auf das Studium

Nach der Schule brauchte sie „erstmal zwei Semester, um die Uni zu verstehen. Weil ich irgendwann im siebten Semester war und damit „zu lange“ studierte, bekam ich kein Bafög mehr. Daher kann ich mir weiterhin kaum Literatur leisten – und muss arbeiten. Beides wirkt sich unmittelbar auf das Studium aus. Wenn du den ganzen Tag darüber nachdenkst, wie du dich ernährst, wie du wohnst und woher du das Geld für beides bekommst, hast du wenig Zeit zum Studieren.“

Doch das Empfinden klassistischer Diskriminierung beschränkt sich auch an der Uni nicht auf den Geldbeutel. „Ich finde es sehr schwierig, dass im ersten Unisemester unglaublich viele Fachwörter vorausgesetzt werden. Man muss dauernd nachschlagen, kommt oft nicht hinterher. Mir waren die Ausdrucksformen, der ganze Habitus am Anfang total fremd.“ Habitus, immerhin: Diesen Begriff kennt der Duden. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat ihn erfunden und meint das Auftreten einer Person, das wesentlich geprägt ist durch die unbewusste Aneignung vorgegebener, „klassenspezifischer“ Grenzen. Er drückt sich aus in Geschmack, Sprache und Konsumverhalten. „Arbeiterkinder“ im akademischen Betrieb leben demnach in zwei grundverschiedenen Welten, einem alten und einem neuen Zuhause.

Der innere Konflikt zwischen materialistischer Linker und Linksliberalen

Klassistische Diskriminierung also ist auch in Deutschland statistische und erfahrbare Realität. Warum aber findet sie in politischen Debatten kaum über Allgemeinplätze wie den Wunsch nach „Chancengleichheit“ hinaus statt? Die Antwort könnte sich in Lagerkonstellationen der gesellschaftspolitischen Linken finden. Der Klassismus sei schon semantisch in einer Reihe von „Ismen“, die vor allem von identitätspolitischen Bewegungen in den öffentlichen Raum getragen werden.

Gefordert wird mit ihm aber vor allem eines: ökonomische Gerechtigkeit. Also das, wofür sich die Linke zu allererst interessiert. Und wofür linksliberale Bewegungen, die sich gegen Diskriminierung engagieren, oft nur am Rande kämpfen. Der resultierende Konflikt wird sichtbar, wenn es um das Wohnen geht: „Gentrifizierung ist für mich ein gutes Beispiel für Klassismus. Bestimmte Stadtteile, die mal total verrufen waren, sind jetzt hip, dafür werden Menschen, die zum Beispiel in Ehrenfeld wohnten, aus der Stadt verdrängt. Ich finde diesen Prozess furchtbar“, sagt Nathalie. Nun werden die gemeinten Stadtteile insbesondere in Köln aber auch oft von Vertretern eines studentisch-linksliberalen Milieus bewohnt.

„Anti-Klassismus ist immer antikapitalistisch“

Auch am Thema Nachhaltigkeit kann die Unförmigkeit des Klassismusbegriffes nachvollzogen werden: Es gebe „Fleischskandale noch und nöcher, alle schreien danach, dass es kein Steak mehr für 1,99 Euro geben darf“, so Nathalie. „Ich denke da im zweiten Schritt an die Menschen, die froh sind, genug im Magen zu haben – und sich zum Beispiel kein Bio-Fleisch leisten können.“ Jeder müsse die Chance haben, sich nachhaltiger zu ernähren, alles andere sei zu kurz gedacht: „Anti-Klassismus ist immer antikapitalistisch“.

Dass Andreas Kemper in seiner Doppelrolle als Wissenschaftler und Aktivist die eigene Biografie vor sich her trägt, gefällt Nathalie: „Ich finde es wichtig, dass Kemper jemand ist, der Klassismus erlebt hat. Es geht nicht nur um theoretische Betrachtung, sondern auch um ein Erleben von Diskriminierung.“ Theorie und Praxis, so der Konsens, müssen zusammenfinden.

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Ob und wann die klassistische Diskriminierung in den großen politischen Diskursen ankommen wird, ist nicht abzusehen. Auch deswegen versuchen Nathalie und Janina, die Umstände im Kleinen zu verbessern. Ihr Referat arbeitet eng zusammen mit zwei Gruppen, die sich für Antirassismus und Barrierefreiheit einsetzen. Geplant ist eine Vorlesungsreihe zum Thema Klassismus, bei der die Aktivistinnen auch selbst dozieren. An Berufsschulen wollen sie in Kursen diesen Klassismus, der aus ihrer Sicht viele intelligente junge Menschen von der Uni abhält, erklären. „Ich glaube, dass es möglich ist, nicht in klassistischen Mustern zu denken. Aber nur, wenn diese Muster reflektiert werden“, sagt Nathalie. Janina stimmt zu: „Zumindest an unserer Uni habe ich die Hoffnung, dass sich strukturell etwas verändern kann.“

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