Verhaltensbiologe„Menschen ohne Hund sind eigentlich nicht ganz vollständig“

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Professor Kurt Kotrschal, Verhaltensbiologe an der Universität Wien

  • In der Corona-Krise haben sich viele Menschen ein Haustier angeschafft – für den Verhaltensbiologen Kurt Kotrschal ist das absolut nachvollziehbar.
  • Schließlich lebt der Mensch bereits seit tausenden von Jahren mit Tieren zusammen, besonders der Nachfahre des Wolfes – der Hund – ist uns ähnlich.
  • Im Interview geht der Wiener Professor sogar noch weiter, wenn er behauptet: Menschen haben ein Grundbedürfnis danach, mit Tieren zu leben.

Köln – Professor Kotrschal, die Corona-Zeit bewirkt aktuell, dass sich viele Menschen ein Haustier anschaffen, die bislang keines hatten. Ist das eine gute Idee?

Kurt Kotrschal: Es kommt drauf an. Man könnte eine niederschwellige Erklärung finden: Die Leute haben jetzt Zeit. Nicht nur für Tiere. Es gehen ja auch mehr Leute in Bau- und Gartenmärkte und Schrebergärten sind wieder heiß begehrt. Andererseits erleben doch viele Menschen die Corona-Pandemie als Krise. Es herrscht Verunsicherung. In solchen Zeiten sucht man mehr oder weniger bewusst soziale Unterstützung.

Zur Person

 Kurt Kotrschal, 67, Verhaltensbiologe, Professor an der Universität Wien, forscht zur Mensch-Tier-Beziehung. Er ist  Leiter der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau, Mitbegründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn, verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und Halter von zwei Eurasier-Hunden.

Und die kann ein Tier geben?

Natürlich. Tier oder Mensch, das ist fast egal. Wir kommen biophil zu Welt.

Also mit einer Liebe zum Lebendigen.

Ja. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Unsere Babys interessieren sich mit drei bis sechs Monaten für nichts mehr als für Tiere und sind auch später noch sehr auf Tiere fixiert. Das ist eine menschliche Universalie, das haben alle Kinder, je jünger, desto intensiver. Die Biophilie öffnet ein Fenster in unsere evolutionäre Vergangenheit. Tierbeziehung war ein wichtiger Faktor in der Menschwerdung.

Aber warum? Wir essen Tiere.

Auch. Einen Hund zu Hause zu haben, heißt eben nicht, dass wir keine Schweine essen. Die eigene Familie zu lieben, bedeutet auch nicht, dass wir keine anderen Menschen töten. Diese ethischen Vorstellungen sind etwas ganz Neues und werden von einem Großteil der Menschheit nicht geteilt. Wir sind primär Clan-orientiert. Aber etwa die Anfänge der menschlichen Spiritualität liegen in der Tierbeziehung. Animismus, der Glaube an die Beseeltheit der Natur, ist die Basis für jede andere spirituelle oder religiöse Vorstellung. Alle Jäger und Sammler sind mehr oder weniger Animisten gewesen...

.. heißt, wenn ein Tier getötet wurde, musste etwas für sein Seelenheil getan werden.

Für das eigene. Animismus ist eine sehr pragmatische Sache. Wenn ich ein Tier esse, dann muss ich es so töten, dass mir die Seele des Tieres später nicht zürnt – und ich mir nicht den Fuß breche oder krank werde. In der Tierbeziehung liegt die Wurzel für vieles, was wir heute als typisch menschlich bezeichnen. Ohne Tierbeziehungen sind Menschen in ihrer evolutionären Geschichte, aber auch in ihrer individuellen Entwicklung nicht erklärbar. Biophilie ist nicht nur ein Fenster in unsere evolutionäre Vergangenheit – mit ihrer biophilen Orientierung sagen uns Kinder heute, was für ihr Aufwachsen wichtig ist.

Ein Leben mit Kumpan-Tieren?

Genau. Dass die sensitive und verlässliche Betreuung durch Bezugspersonen für Babys im Zentrum steht, ist unbestritten. Die Attachment-Theorie ist so gut abgesichert, da fährt die Eisenbahn drüber. Aber die zweite Schale der Zwiebel ist Naturkontakt. Kinder brauchen Kontakt zu Natur und Tieren, je jünger desto intensiver. Das Leben mit Kumpan-Tieren ist keine Erfindung der letzten paar Hundert Jahre, das ist seit jeher so. Das gab es schon in der Alt-alt-alt-Steinzeit. Und Hunde sind ein Spezialfall dieser Kumpan-Tiere. Wir wissen, dass wir vor 35.000 Jahren mit Wölfen zusammenkamen. Gut sozialisierte Wölfe und Menschen passen unglaublich gut zusammen. Es gibt kein Tier da draußen, das uns ähnlicher wäre als der Wolf.

Tatsächlich?

Ja. Und nicht im Bösen. Sondern was die Kooperationsbereitschaft betrifft. Wir ziehen gemeinsam sozial die Kinder auf, haben eine unglaublich kooperative Orientierung in Richtung Clan und Gruppe – sind aber nicht immer so nett zu anderen. Das sind typische Wolfs- und Menschen-Merkmale. Diese Tiere, die sowieso schon so exzellent zum Menschen gepasst haben, haben sich im Verlauf der letzten 35.000 Jahre an uns angepasst und wurden so zu Hunden. Die schauen zwar etwas anders aus als wir, aber in Wirklichkeit sind es Hybridwesen zwischen Wolf und Mensch. Sie sind unser Alter Ego geworden.

Haben die Menschen in der Steinzeit mit Wölfen gelebt wie wir heute mit Hunden?

Das wissen wir nicht. Aber es muss geklappt haben. Wenn die Wölfe der Steinzeit die Kinder der Menschen gefressen hätten, dann hätten wir heute keine Hunde – in denen noch immer viel Wolf steckt. Es gibt sie aber, und wir sind an ein Leben mit Hund angepasst. Es tut uns gut. Die Daten sind hart genug, dass man sagen kann: Leute ohne Tierbeziehung, beziehungsweise Leute ohne Hund sind eigentlich nicht ganz vollständig. Immer dort, wo es ein bisschen stressiger wird im menschlichen Zusammenleben, etwa in den Städten, geht die Hundehaltung nach oben. Mit zunehmender Urbanisierung werden weltweit mehr Hunde und Katzen gehalten. Das zeigt, dass es ein Grundbedürfnis gibt, mit Tieren zu leben.

Bücher von Kurt Kotrschal

„Hund – Mensch. Das Geheimnis der Seelenverwandtschaft“, Brandstätter, 272. S. ,24.90 €

„Mensch. Woher wir kommen. Wer wir sind. Wohin wir gehen“ Brandstätter, 320 S. ,25 €

„Sind wir Menschen noch zu retten? Gefahren und Chancen unserer Natur“ Residenz , 192 Seiten, 20 €

Warum überdauert dieses Bedürfnis seit der Steinzeit alle Entwicklungen des Menschen und der Gesellschaft?

An der menschlichen Natur hat sich nicht viel verändert. Das Einzige, das sich seit 40.000, 50.000 Jahren verändert haben könnte, ist, dass wir heute etwas netter zueinander sind. Es gibt die Idee, dass Menschen so etwas wie eine Selbstdomestikation durchgemacht hätten. Es waren vor allem die kooperativen, sozial kompetenten Leute innerhalb der Gruppe, die Nachkommen hatten. Allerdings scheint das, genauso wie die Hochentwicklung unseres Gehirns – wir sind ja die Säugetiere mit einem Rekordhirn an Größe und Leistung – auch Folgen gehabt zu haben.

Inwiefern?

Es gibt keine anderen Säugetiere, die so anfällig für psychische Probleme sind wie wir. Wenn etwas bei unserem Aufwachsen nicht passt, wenn etwas mit dem Partner, mit der sozialen Einbettung nicht passt, haben wir eine große Wahrscheinlichkeit, eine ganze Latte an psychischen Problemen zu entwickeln. Das sind die Kosten für ein hoch entwickeltes Gehirn. Und was braucht dieses Gehirn, was brauchen Menschen, um seelisch gesund zu bleiben? Sie brauchen eine gute soziale Einbettung, und dazu gehört auch ein Leben mit Tier.

Wenn ich meinen Kindern den Wunsch nach Hund, Katze, Kaninchen verweigere, tue ich ihnen also nichts Gutes?

Die Bedingungen müssen natürlich stimmen. Wenn ich in einer ohnehin stressigen Situation lebe und dann noch einen Hund anschaffe, ist das vielleicht keine gute Idee. Aber wenn es irgendwie geht, sollte man das tun. Kindern ein Leben mit Tieren zu verweigern grenzt an soziale Deprivation.

Das ist ein starker Vorwurf.

Es stimmt aber. Das wird nur verdrängt. Tiere sind kein Ersatz für menschliche Bezugspersonen, aber ich sehe Hunde als soziale Schmiermittel. Leute mit Hunden haben auch bessere Sozialkontakte zu anderen Leuten.

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Weil sie beim Gassigehen ins Gespräch kommen.

Das ist ein wichtiger Effekt. Besonders im Alter. Im Alter ist das Leben mit Hund ein wichtiges Mittel gegen Altersdepression. Die Leute müssen aufstehen, müssen einen regelmäßigen Lebenswandel haben, haben jemanden, dem sie Zuwendung geben und von dem sie Zuwendung erhalten können, sie müssen raus, treffen andere Leute und so weiter. Mit einer Katze ist das nicht ganz so. Deshalb sind Hunde sozial wirksamer als andere Tiere. Man kann auch nicht sagen, in die Stadt gehörten keine Hunde. Entscheidend für das Wohlergehen eines Hundes ist eine gute Beziehung zu seinem Menschen. Aber das Anschaffen eines Hundes bedeutet nicht automatisch Glück. Ich muss davon ausgehen, dass das wie in jeder sozialen Partnerschaft ein Geben und ein Nehmen ist.

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