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ZwangsprostitutionWie eine Mutter ihr Kind an einen Loverboy verlor – und wiederbekam

Lesezeit 8 Minuten
Zwangsprostitution

Eine ehemalige Zwangsprostituierte steht in einem Rotlichtviertel. (Symbolbild)

Köln – Die „Loverboy-Masche“. Das klingt so harmlos. In Wirklichkeit ist sie ein Drama für die, die darauf hereinfallen. Oftmals junge Frauen. Dabei nehmen Täter beispielsweise auf dem Schulhof, vor Fast-Food-Restaurants oder über soziale Netzwerke Kontakt zu ihren späteren Opfern auf. Sie erschleichen sich das Vertrauen der Mädchen oder Frauen und trennen diese von ihrem sozialen Umfeld. Sobald sie die Opfer in eine emotionale Abhängigkeit getrieben und sozial isoliert haben, werden sie in die Prostitution gelockt und gefügig gemacht. 

Über ihren Familien-Blog „Stadt, Land, Mama“ hat Lisa Harmann Kontakt zu Carola erhalten. Sie erzählt ihr die Geschichte ihrer Tochter, die auf einen sogenannten „Loverboy“ hereingefallen ist. Aus diesem Gespräch ist der folgende Text entstanden, der auch von ihrer Tochter so abgenommen wurde. 

Als Carola bemerkt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt, ist diese schon ausgezogen. Sie hatte immer einen guten Draht zu ihrem zweiten Kind. Die beiden telefonieren nach ihrem Auszug viel und sehen sich häufig, weil sie weiter in der gleichen Stadt wohnen. Sie ist 19, bereit fürs Leben.

Doch Carola ist beunruhigt. Sie spürt, dass ihrer Tochter – nennen wir sie Sabrina – etwas auf der Seele liegt. Sie ist schweigsamer als sonst, lässt sich in Gesprächen immerzu von Nachrichten auf ihrem Handy ablenken. Hier stimmt doch etwas nicht, ahnt die Mama. Und sie soll Recht behalten.

Hörig, abhängig: In den Fängen eines „Loverboys“

Denn was sie da noch nicht weißt, ist, dass Sabrina in die Fänge eines genannten Loverboys geraten ist. An einen Typen Anfang oder Mitte 20, der aussieht wie ein Topmodel. Ein Schönling, der ihr den Himmel auf Erden verspricht. Und der irgendwann sagt, er brauche dringend 10.000 Euro.

Es sind die kleinen Dinge, die der Mutter Sorgen machen. Wenn Sabrina bei ihr ist, zieht sie auf dem Sofa die Beine an sich, wie in Embryohaltung. Carola sagt ihr immer wieder: Sabrina, ich bin für dich da. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Bis Sabrina irgendwann in Tränen ausbricht. Danke, Mama. Danke. Aber ich kann dir leider noch nicht sagen, was los ist.

Was die Mutter nicht weiß: Ihr Kind geht anschaffen

Was die Mutter nicht weiß: Ihr Kind geht anschaffen. Zehn Freier bedient ihre Tochter in der Anfangszeit. Pro Tag. Später sind es drei oder vier, je nach Auftragslage. Sabrina ist ihrem Loverboy, der ihr immer mal wieder andere Namen und Geburtsdaten auftischt, verfallen. Wenn sie äußert, dass sie aussteigen will, schlägt er sie, sie hat blaue Flecken am ganzen Körper. Er braucht das Geld. Das Geld, das sie ihm liefert.

Bewusst verschuldet er Sabrina. Mit Handyverträgen oder teuren Bestellungen, die sie „abbezahlen“ muss. Er droht, ihren kleinen Geschwistern oder ihrer Mutter etwas anzutun, wenn sie etwas sagt. Sie liebt ihn. Sie kann nicht ohne ihn.

Carolas Tochter fühlt sich dreckig, lächelt nicht mehr

Carolas Tochter verändert sich, lächelt nicht mehr. Wenn Sabrina ihre Mutter besucht, geht sie erstmal ins Bad. Sie fühlt sich dreckig. Einmal kommt sie kaum ohne Hilfe aus der Dusche raus, nicht nur ihre Seele leidet. Auch ihr Körper.

Die Freier sind eher gut betuchte Männer. Irgendwann kann sie wählerischer werden, bald lässt sie nicht mehr jeden in ihre kleine Wohnung. Denn dort geschieht es. Sie will da raus. Aber sie schafft es nicht.

Hilfe für Betroffene

Sind Sie selbst von Zwangsprostitution betroffen oder kennen jemand, dem es so geht? Hier finden Sie Hilfe, Beratung oder Austausch: 

• Eilod – Elterninitiative für Loverboy-Opfer in Deutschland: www.eilod.de, Tel.: 0211-98740156

• Mädchenhaus Bielefeld: www.maedchenhaus-bielefeld.de, Tel.: 0521-173016

• Blog der ehemaligen Zwangsprostituierten Sandra Norak: https://mylifeinprostitution.wordpress.com

• Aufklärungsvideo des NRW-Gleichstellungsministeriums: youtu.be/_pvDKgVNlNo

Ich bin für dich da. Als Carola endlich von Sabrina erfährt was los ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Sabrina behauptet, das alles freiwillig zu tun. Für ihn. Aus Liebe. Es sei ja nur Sex und schnell verdientes Geld. Sie sei so verliebt. Sie habe Angst, dass Carola sie jetzt verstoße. Ich bin für dich da.

Die Mutter macht gute Miene zum bösen Spiel

Ihrer Mama kommt fast die Galle hoch, wenn sie an ihn denkt. An diesen Typen, der noch mit ihnen Weihnachten gefeiert hatte. Von dem sie nicht wissen durfte, was er ihrer Tochter antat. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen, sie durfte nichts sagen, obwohl sie es wusste. Es wäre gefährlich geworden. Für sie. Für ihre Tochter.

Er habe gut geschauspielert, sagt Carola, sei höflich in der Ansprache gewesen und habe sich sogar geduldig mit Sabrinas Geschwistern gezeigt. Sie musste mit ansehen, wie ihre Tochter ihn anhimmelte, wie sie ihm Parfum geschenkt hatte, das sie sich eigentlich nicht hätte leisten können, knutschen, turteln – das ganze Programm. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schwer das war!“, sagt sie.

Mittlerweile hat sie eine Erklärung für Sabrinas verloren gegangenes Lächeln. Auch ihr eigenes friert ein. Mehr noch. Sie weiß alles und darf doch nichts wissen. Sie weint an den unmöglichsten Orten, in der Bahn auf dem Nachhauseweg, im Supermarkt. Wie kann sie ihrer Tochter helfen?

Eine Mutter kämpft um ihr Kind

Carola wird zur Löwenmama. Sie schmiedet Fluchtpläne für Sabrina, freundet sich mit Mädchen und Jungen aus der Szene an, von denen sie sich Hilfe erhofft. Spricht mit Opfern und deren Müttern, bringt sich selbst in Gefahr.

Sie liest das Buch „Und plötzlich gehörst du ihm – Gefangen im Netz eines Loverboys“. Sie will immer einen Schritt weiter sein, um handeln zu können, um ihre Tochter aus der Schusslinie zu nehmen.

Im Hintergrund telefoniert sie Beratungsstellen ab, wendet sich ans Jugendamt. Aber ohne echten Namen kommt sie nicht weiter, so richtig fühlt sich niemand zuständig. Außerdem ist ihre Tochter volljährig. Und: Sie gibt vor, das alles freiwillig zu tun.

„Für mich war klar: Ich halte immer zu meinem Kind“

„Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagt Carola. „Aber für mich war immer klar, ich halte zu meinem Kind.“ In ihrer Verzweiflung will sie stark sein. Stark für ihr Kind. Und ihre bedingungslose Loyalität zahlt sich aus. Ihre Tochter zeigt ihr einige Mails, gibt ihr Kontaktdaten von Freiern.

Mit einem nimmt sie Kontakt auf, er könne eventuell beim Ausstieg helfen, sagt er. Doch bei einem ersten Treffen stellt er Bedingungen: Ich habe deine Tochter gevögelt. Jetzt will ich noch dich. Eine Farce. Schlimmer als ein Albtraum, nennt Carola das heute. „In mir ist so viel kaputt gegangen.“ Wenn dein Kind die Hilfe nicht will, sind uns die Hände gebunden, sagen die Beratungsstellen. Sie kämpft allein.

Sabrina ist nicht seine einzige Frau, er zieht das Spiel mit weiteren Frauen durch

Immer wieder verbietet der Loverboy ihrer Tochter den Kontakt zu ihr. Währenddessen zieht er sein Spielchen mit weiteren Frauen durch. Sabrina mag seine „Hauptfrau“ sein, mit ihr macht er das meiste Geld, aber sie ist nicht die einzige, die ihm hörig ist, die er manipuliert, bis sie alles macht, was er von ihr verlangt.

Die wie fremdgesteuert für ihn funktioniert, die er immer weiter in seine Abhängigkeit manövriert. Die für ihn anschaffen geht. Angeblich aus Liebe. Vier Jahre lang dauert ihr Martyrium aus Prostitution und Hörigkeit. Drei Mal geht Carola mit ihrer Tochter zum LKA, dreimal bricht sie das Gespräch ab und läuft weg. Dann schafft sie den Absprung.

Am Ende ist es ihr Körper, der sie zum letzten Schritt zwingt, er nimmt kaum noch Nahrung an. Mehrmals bricht sie auf der Straße zusammen, wird ins Krankenhaus eingeliefert. Sie fängt eine Therapie an, besucht Ärzte. Hält sich kaum noch in ihrer Wohnung auf, um nicht von ihm abgefangen zu werden.

Bei manchen Gerüchen auf der Straße wird Sabrina immer noch schlecht

Anfangs terrorisiert er sie, ruft immer wieder an, droht. Doch am Ende haben sie so viel gegen ihn in der Hand, dass sein echter Name polizeibekannt wird und er sich zurückziehen muss. Sabrina beginnt einen Job, vor allem zur Ablenkung.

Bei manchen Gerüchen auf der Straße wird Sabrina immer noch schlecht, dann erlebt sie Flashbacks in die schlimme Zeit. Überall im Alltag lauern Geruchs-Trigger, Betroffene haben oft jahrelang damit zu kämpfen. Da kommt plötzlich Hass und Wut hoch, viele richten diese auch gegen sich selbst, erzählt Carola.

Selbst die Umarmung eines vertrauten Menschen kann Erstickungsgefühle hervorrufen. Nähe zuzulassen fällt nicht mehr leicht. Familien zerbrechen daran. Die meisten brauchen jahrelange Therapien, um halbwegs zurückzufinden in einen geregelten Alltag.

Nichts ist mehr wie es war: Für immer verändert

Vier Jahre sind seit Sabrinas Absprung vergangen, die Fassade wirkt unauffällig. Heute ist sie verheiratet und Mutter geworden. Carola hat die Sorge um ihr Kind gebrochen, sie hat es schwer, Männern zu vertrauen, ihre Grundfeste sind erschüttert. Aber sie hat keinen Hass mehr. Sie hat ihre Tochter wieder. Und das ist mehr als sie erwarten konnte. Nie wieder aber, das glaubt sie fest, werden sie zurückfinden in die Unbeschwertheit von damals.

Wirklich geholfen hat ihr am Ende der Kontakt zu einer anderen betroffenen Mutter, die ihr die Beratungsstelle Eilod vermittelt hat und mit der sie noch heute freundschaftlich verbunden ist. Weil niemand sonst wirklich nachvollziehen kann, was sie da durchgemacht haben. Und was es bedeutet, wenn sich das eigene Kind ins Unglück stürzt.

Sabrina wird nie wieder dieselbe sein wird wie vorher. Und ihre Mutter eben auch nicht.

Dieser Text erschien zuerst auf www.stadtlandmama.de.

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