60 Corona-Tests am Tag erwartetDroht Kinderarztpraxen im Herbst der Kollaps?

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Die große Coronakrise steht den Kinderärzten womöglich noch bevor.

  • Der Winter stellt für Kinderärzte in jedem Jahr eine Herausforderung an der Belastungsgrenze dar. Grippe- und Erkältungssaison fallen zusammen, Überstunden werden zur Regel.
  • Nun schlagen viele Kinderärzte Alarm. Denn ausgehend von den RKI-Kriterien drohen jeder Praxis rund 60 Corona-Tests – zusätzlich, pro Tag.
  • Wie blicken Ärzte auf den Winter? Welche Vorschläge haben Sie, um die besondere Situation bewältigt zu bekommen? Wir haben uns umgehört und Stimmen gesammelt.

Köln – Auch für die deutschen Kinderarztpraxen stellt das Coronavirus eine besondere Herausforderung dar: Neben einzuhaltenden Hygienebedingungen werden Kinder zusätzlich zum normalen Betrieb auf Covid-19 getestet. Für die Wintermonate, mit denen durch saisonale Grippen und Erkältungen ohnehin eine hohe Belastung entsteht, befürchten viele Ärzte überlaufene Praxen. Denn das Robert-Koch-Institut listet Schnupfen als Corona-Symptom.

Die Sorge leuchtet ein: Wenn jedes kränkelnde Kind für einen Corona-Test zum Kinderarzt gefahren wird, ist nicht nur die Infektionsgefahr höher, es entstehen auch deutlich mehr Behandlungen. Thomas Fischbach, der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, schlägt Alarm: „Wir befürchten in der Tat, dass es ab dem Herbst zu einem Ansturm auf unsere kinder- und jugendärztlichen Praxen kommen wird.“

RKI empfiehlt ausgiebige Testungen

Das Robert-Koch-Institut empfiehlt Corona-Tests bei „akuten respiratorischen Symptomen jeder Schwere“ und „bei allen Patienten unabhängig von Risikofaktoren“. Lieber zu viel als zu wenig Gewissheit, so also die Vorgabe. Fischbach sagt: „Wenn jetzt zusätzlich Kinder geschickt werden, bei denen jede Schnupfnase als Hinweis auf Covid-19 gesehen wird, dann ein Test verlangt wird, dann werden wir dies nicht alleine bewältigen können.“ Die großflächige Testung sei Aufgabe des öffentlichen Gesundheitssystems – nicht der Kinderpraxen.

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Auch der Kölner Kinderarzt Guido Kuhmann beobachtet die Entwicklung mit Skepsis. „Ich würde Herr Fischbach tendenziell zustimmen. Es braucht sicherlich Unterstützung.“ Die Frage, wie die Grippesaison mit der zusätzlichen Belastung durch Corona-Tests bewältigt werden könnte, stelle auch er sich – wenngleich er in seiner neu eröffneten Praxis in Sülz keine Überlastung befürchte. Womöglich, so Kuhmann, könnte es insgesamt weniger Erkrankungen geben, weil Kinder aktuell seltener und weniger nah zusammen kommen. Eine vage Hoffnung. Es sei schließlich „täglich Brot, dass Erzieher Kinder nach Hause schicken, wenn ein Popel quer sitzt.“ Drohen analog in der Corona-Pandemie Massentests aufgrund von schnupfenden Nasen?

„Wir sind auf dem Weg in die Normalität“

Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, sieht das nicht so: „Wir sind auf dem Weg in die Normalität, haben insgesamt aber weiterhin weniger Behandlungen als im Vorjahresquartal. Dieser Trend gilt auch für Kinder- und Jugendärzte.“ Er beobachte „eine gewisse Angst, zum Arzt zu gehen. Im März haben wir ja gesagt: Arztpraxen sind mögliche Infektionsorte, bleibt hier weg! Diese Warnung hallt jetzt nach.“ Insgesamt also sieht er eine Unterbelastung der Praxen – aktuell.

Ob das auch in vier Monaten der Fall sein wird, sei „überhaupt nicht vorhersehbar“, wenngleich es im Winter eine größere Grundanfälligkeit für Viren gebe. Zastrow sieht als akutes Problem vielmehr ausbleibende Behandlungen an: „Wir sehen schwierigere Fälle, weil zu viele Menschen länger nicht beim Arzt waren. Bei mir als HNO-Arzt gibt es Patienten, bei denen sich aufgrund zu seltener Behandlungen Entzündungen mit Ohrenschmalz ergeben haben“

Schnelle Reaktionen sinnvoller als Prävention?

Zwar stimme er zu, dass großflächige Tests Aufgabe des Staates sind – dies allerdings bedeute nicht, dass jeder Abstrich beim Kinderarzt falsch sei. Vorsorge sei im Fall der laufenden Pandemie nicht immer die Antwort. „Der richtige Weg sind adäquate, zeitnahe Maßnahmen vor Ort – keine Zukunftsspekulationen. Die Frage ist, ob wir heute Sandsäcke kaufen, weil wir ein Hochwasser im Dezember befürchten. Ich plädiere dagegen.“

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Die Befürchtung, die Angst vor dem Virus könnte den normalen Praxisbetrieb unmöglich machen, bleibt. Kinderarzt Klaus Rodens rechnet im „Spiegel“ mit 50 bis 60 Tests pro Tag: „Der totale Wahnsinn.“ Die Ideen, mit denen der Kollaps verhindert werden soll, sind vielfältig. Rodens beispielsweise schlägt „Drive-Ins“ für Kinder unter zehn Jahren vor. Dort könnten sie außerhalb der Praxis getestet werden. Außerdem fordert er Tests an Schulen und Kitas, sobald es zu lokalen Anstiegen kommt.

Kohortentests könnten eine Lösung sein

Auch Kohortentests werden diskutiert. Bei diesen würden etwa zehn Kinder einer Schulklasse ihren Rachen spülen – und anschließend in dasselbe Gefäß spucken, aus dem eine Probe entnommen und auf Corona getestet wird. Ist der Test positiv, bekommt jeder einen Abstrich – sonst nicht. Zastrow gefällt das Konzept, allerdings sieht er juristische Bedenken: „Kohortentests sind aus epidemiologischer Sicht richtig und sinnvoll. Allerdings haben wir es in der Behandlung von Patienten mit einem individuellen Umgang und entsprechender Anspruchshaltung zu tun.“ 

In der Abwägung zwischen dem Recht auf eine persönliche Behandlung und dem Erkenntnisgewinn würde er das Konzept allerdings „persönlich begrüßen“: Die Abstriche „müsste kein Arzt durchführen, es reicht, hierfür zwei Stunden lang angelernt zu werden. An Schulen würden ein Massentest von 90 Schülern gut organisiert etwa einen Vormittag beanspruchen."

Inwiefern sich aus den Forderungen der Ärzteschaft politische Justierungen ergeben, bleibt abzuwarten. Das Coronavirus, soviel kann festgehalten werden, stellt auch jenseits der tödlichen Gefahr eine neue und dauerhafte Herausforderung für das Gesundheitssystem dar.

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