Alkohol, Drogen, GlücksspielIst Sucht eigentlich vererbbar?

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Vererben Eltern ihre Süchte ihren Kindern?

Sind Kinder suchtkranker Menschen per se eher gefährdet, später auch eine Sucht zu entwickeln als andere? Psychiater und Suchtexperte Dr. Darius Ch. Tabatabai ist sich sicher, dass eine Suchterkrankung immer viele Gründe hat. Erblich sei eine Sucht nicht, jedoch lernen Kinder von ihren Eltern mehr als diese vielleicht denken, so der Chefarzt am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin im Interview. 

Kann eine Suchterkrankung vererbt werden?

Dr. Darius Ch. Tabatabai: Zu dieser Frage wird viel geforscht, doch wirklich stichhaltige Beweise gibt es noch nicht. Ein isoliertes Gen, ein bestimmtes Merkmal, das dafür steht, dass sich eine Abhängigkeitserkrankung ausprägt, wurde bislang nicht identifiziert. Es wird sinnvollerweise weiter geforscht, ob bestimmte Konstellationen eine Erkrankung wahrscheinlicher machen. Aber bislang ist der Stand der Forschung dazu noch wenig aussagekräftig.

Was man allerdings sagen kann, ist, dass Menschen, die viel Alkohol vertragen, ohne Vergiftungserscheinungen in Form eines Katers zu bekommen, statistisch gesehen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, eine Suchterkrankung zu entwickeln. Diese Menschen bauen den Alkohol und seine Stoffwechselprodukte schneller ab. Das heißt aber auch: Diese Menschen kennen das Unwohlsein nach dem Trinken nicht so ausgeprägt, wie andere, die den Alkohol langsamer abbauen. Dadurch fehlt eine natürliche Bremse.

Welche Rolle spielt das Umfeld bei einer Suchterkrankung?

Tabatabai: Die Umgebung und die Familie spielen eine große Rolle. So belegt eine Umfrage in Berliner Schulen zu Suchtmitteln, dass Cannabis sehr angesagt ist, aber Alkohol immer noch die Droge Nr. 1 ist. Am häufigsten findet der Erstkontakt mit Alkohol in der Familie statt – nicht wie vielleicht angenommen innerhalb der Peer Group. Es spielt also eine große Rolle, welchen Stellenwert der Alkohol in der Familie hat. Man weiß, dass Kinder aus Familien mit abhängigkeitserkranktem Elternteil später selbst ein Risiko zwischen 30 und 40 Prozent haben, selbst eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln.

Aber das ist dann eher auf die Erziehung zurückzuführen?

Tabatabai: Ja, wenn Kinder früh beobachten, dass Eltern zu bestimmten Zeitpunkten Alkohol oder andere Drogen konsumieren, um die Befindlichkeit zu verändern, kann es sein, dass Kinder das als Modell übernehmen. Die Eltern haben immer eine Vorbildfunktion für ihre Kinder.

Und wenn Kinder den Konsum der Eltern nicht mitkriegen bzw. die Eltern „trocken“ sind, bevor die Kinder auf die Welt kommen?

Tabatabai: Dann dürfte der Konsum sich nicht auf die Kinder auswirken. In der Vererbungslinie setzt sich der Konsum dann nicht weiter fort. Wenn die Eltern abstinent leben, haben die Kinder kein höheres Risiko für Suchterkrankungen als andere auch.

Was sind Ursachen für eine Suchterkrankung?

Tabatabai: Ursachen für Suchterkrankungen sind multifaktoriell. Die genannten biologischen Faktoren wie der unterschiedliche Alkoholabbau spielen eine Rolle, dann gibt es psychologische Modelle, psychodynamische oder lerntheoretische Zusammenhänge. Traumata in der Kindheit spielen beispielsweise durchaus eine Rolle. Die soziale Dimension ist aber auch wichtig. Das heißt: Unter welchen Umwelteinflüssen stehe ich? Bei jüngeren Menschen ist das die Peer Group. Interessant ist eine neue Studie, die belegt: Studenten, die zusammen viel Sport treiben, haben ein höheres Risiko, danach gemeinsam zu konsumieren – dabei ist egal, ob Alkohol getrunken wird oder ein Joint geraucht wird. Das trifft besonders auf den Mannschaftssport zu. Das gehört dann einfach zum Gruppenverhalten für viele dazu.

Ist Alkoholsucht dasselbe wie beispielsweise eine Sportsucht?

Tabatabai: Hinsichtlich des Körpers kommt es dabei auf die Dosierung an: eine Alkoholabhängigkeit fügt dem Körper, der Seele und der sozialen Situation nachhaltige Schäden zu. Beim süchtigen Gebrauch von Sport kann es durchaus sein, dass man dem Körper durch das Abfordern hoher Leistungen Schaden zufügt, die soziale Dimension gleichzeitig aber unbeeinträchtigt bleibt. Wenn man sich aber nur noch für Sport interessiert und Familie und Freunde vernachlässigt, kann das anders sein und die soziale Dimension durch eine Sportsucht genauso beeinträchtigt werden.

Auch bei den körperlichen Schäden muss man differenzieren. Wenn ich Gelenkverscheiß produziere, ist das etwas anderes als die multidimensionalen Einflüsse des Alkohols auf den Körper: dabei habe ich exorbitante psychische und körperliche Folgeschäden, während das beim Sport eher isolierte Schäden sind. 

Welche Anlaufstellen für Suchtkranke gibt es?

Tabatabai: In Deutschland haben wir ein sehr gutes Netz von steuerfinanzierten Beratungsstellen. In Berlin beispielsweise gibt es 22 Beratungsstellen, bei denen man sich sehr niedrigschwellig beraten lassen kann. Selbst wer unter Restalkohol steht, kann sich dort beraten lassen.

Auch Angehörige von suchterkrankten Menschen können sich dort unbürokratisch Hilfe holen. Denn diese leiden häufig sehr früh unter der Suchterkrankung eines Angehörigen und fühlen sich in dieser Situation gefangen, trauen sich nicht, darüber zu reden. Dafür sorgt auch das weiterhin verbreitete Stigma der Sucht.

Betroffene selbst brauchen in der Regel sehr lange, um Hilfe anzunehmen. Beim Alkohol ist es so, dass Zweidrittel der Betroffenen 11,8 Jahre brauchen, um Hilfe anzunehmen. Das ist lange, gefährliche Phase der Latenz, in der viele Bereiche des Lebens von den Auswirkungen der Sucht betroffen sind. Das trifft gerade auf Familien zu.

Soll man Angehörige oder Freunde, bei denen man ein Suchtverhalten feststellt, direkt darauf ansprechen?

Tabatabai: Man sollte keine Angst vor der direkten Ansprache haben, aber wenn es geht keine Vorwürfe machen. Hier helfen „Ich-Botschaften“ wie „Ich mache mir Sorgen“ oder „Ich sehe da etwas, das mir Angst bereitet“. Dann reagieren angesprochene Menschen viel häufiger zugewandt, als man glaubt. Wenn man Angst davor hat, ist es besser, sich in der Beratungsstelle Mut zusprechen zu lassen, als ganz zu schweigen.

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