Bis zu 200 Mal am TagWarum vor allem Männer ständig lügen und das normal finden

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„Ich?“ Männer lügen noch mehr als Frauen. 

Köln – Sie lügen gar nicht, meinen Sie? Glauben Sie das wirklich? Beginnen wir mit einem ganz normalen Morgen. Jemand fragt Sie: „Wie geht es Ihnen?“ Was antworten Sie? „Gut!“ natürlich, ganz egal ob das stimmt. Sie gehen ins Büro und sagen „Ja, das mache ich gerne!“, als Sie eine Aufgabe übernehmen sollen, auf die Sie eigentlich keine Lust haben. Ein Kollege fragt: „Wie war der Urlaub?“ Sie antworten: „Einfach super!“, obwohl Sie sich zwei Wochen im Regen gestritten haben. „Das vegane Curry schmeckt toll! Ich esse ja kaum noch Fleisch“, geht es weiter. Am Abend lassen Sie den Sport ausfallen, weil Sie es einfach nicht rechtzeitig aus dem Büro schaffen, schade, schade. Die Verabredung mit einer Freundin sagen Sie auch ab, weil Sie plötzlich entsetzliche Kopfschmerzen haben. Als Ihr Partner Sie fragt: „Sag‘ mal, findest du, ich habe zugenommen?“, antworten Sie natürlich „Nein Schatz, auf gar keinen Fall.“ Diese Beispiele ließen sich unendlich weiter führen. Angeblich lügen Erwachsene bis zu 200 Mal am Tag. Die meisten Unwahrheiten passieren ganz nebenbei im Alltag und sind vollkommen normal für uns. 

Menschen lügen, weil sie sich einen Vorteil erhoffen oder Ärger vermeiden wollen

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und vom Israel Institute of Technology haben 2019 in einer großen Metaanalyse versucht, Erkenntnisse aus 565 Studien mit insgesamt 44.050 Probanden zum Thema Lügen zusammenzutragen. Ein einheitliches Bild ist dabei nicht entstanden. Unehrliches Verhalten hängt den Forschern zufolge von der Situation und der Umgebung ab. Konsens besteht darüber, dass Menschen meist dann lügen, wenn sie sich einen Vorteil erhoffen, weil sie eine Konflikt- oder Drucksituation auflösen wollen, um Macht zu gewinnen, um ihr Prestige zu erhöhen, sich einen Vorteil zu verschaffen oder um Angst, Scham und Peinlichkeiten zu vermeiden.

Eine repräsentative Umfrage unter 1024 Teilnehmern aus dem Jahr 2016 erforschte, zu welchen Anlässen und wie häufig die Deutschen nicht die Wahrheit sagen. Demnach lügen 58 Prozent der Befragten täglich, am häufigsten im direkten Gespräch, dann schriftlich oder telefonisch. Belogen werden in absteigender Reihenfolge Bekannte, Partner, Arbeitskollegen, enge Freunde und Vorgesetzte. Meistens lügen die Befragten, um jemand anderen aufzumuntern, um Fleiß und Engagement vortäuschen, Menschen zu vermeiden oder in Ruhe gelassen zu werden, Schutz und Trost zu spenden, gemocht zu werden und dazugehören, fremde Leistungen als die eigenen auszugeben oder um Lebenslügen zu verbergen.

Männer und jüngere Menschen lügen am häufigsten

Die Metaanalyse des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Israel Institute of Technology zeigte zudem, dass Männer und jüngere Personen etwas häufiger lügen als Frauen und ältere Menschen. Insgesamt logen bei Experimenten 42 Prozent aller Männer und 38 Prozent aller Frauen. Während die Wahrscheinlichkeit einer Lüge bei einem 20-Jährigen bei etwa 47 Prozent liegt, beträgt sie bei einem 60-Jährigen nur 36 Prozent. Eine Befragung des Science Museum in London unter 3000 Männern und Frauen ergab außerdem, dass 70 Prozent der Männer anschließend ein schlechtes Gewissen haben, bei den Frauen sind es sogar 82 Prozent. Angeblich lügen Frauen – ganz Klischee – hauptsächlich, um das soziale Miteinander zu stärken und für Harmonie zu sorgen. Männer dagegen setzen Lügen meist für sich selbst ein, vor allem, wenn es um Ruhm, Macht, Sex und Geld geht.

Das sind die Top 10 der Frauen- und Männerlügen im Vergleich

Frauen: 1. Alles ok, mir geht’s gut. 2. Keine Ahnung, wo es ist. Ich habe es nicht angefasst. 3. Es war gar nicht teuer. 4. Ich habe kaum was getrunken. 5. Ich habe Kopfschmerzen. 6. Es war ein Schnäppchen. 7. Ich bin schon unterwegs. 8. Ich habe das schon seit Ewigkeiten. 9. Ich habe nichts weggeschmissen. 10. Das wollte ich schon immer haben!

Männer: 1. Ich habe kaum was getrunken. 2. Alles ok, mir geht es prima. 3. Ich hatte keinen Empfang. 4. Es war nicht so teuer, 5. Ich bin auf dem Weg. 6. Ich stecke im Stau. 7. Nein, dein Hintern sieht nicht dick aus. 8. Ich habe deinen Anruf nicht gehört. 9. Hast du abgenommen? 10. Das ist alles, was ich immer wollte.

Quelle: Monika Matschnig: „Die Körpersprache der Lügner. Trickser und Schwindler erkennen

Die Psychologin Monika Matschnig hat den Lügen mit „Die Körpersprache der Lügner. Trickser und Schwindler erkennen“ ein ganzes Buch gewidmet. Ihre Meinung ist klar: „Eine Welt komplett ohne Lügen und Flunkern können sich nur Realitätsverweigerer wünschen, denn die Erde wäre wohl ein soziales Schlachtfeld, hätten wir nicht die Fähigkeit zu lügen.“ Ohne Höflichkeitsfloskeln, charmantes Flunkern, gesellschaftliche Rollenspiele und Hierarchietoleranz gingen Ehen und Freundschaften auseinander und Geschäftsbeziehungen in die Brüche. Matschnig ist überzeugt: „Die so gelobte Wahrheit baut häufig keine Nähe auf, sondern erzeugt Distanz. Es geht nicht ohne die Wahrheit, aber auch nicht immer ohne die Lüge. Das Leben ist ein Balanceakt zwischen beiden.“

Es gibt gute und schlechte Lügen, die unterschiedlich toleriert werden

Es gibt aber nicht nur die eine Lüge, sondern sehr viele verschiedene, die unterschiedlich gut angesehen sind. Auch die Motive des Lügners sind wichtig für die Beurteilung, ob eine Lüge tolerabel ist. Gute Lügen sind moralisch vertretbar, sozial erwünscht und folgen positiven Beweggründen („Schmeckt super!“, „Das Kleid steht dir toll.“). Schlechte Lügen haben egoistische und betrügerische Beweggründe und werden als moralisch inakzeptabel angesehen.

Filmtipps zum Thema Lügen und Ehrlichkeit

„Der Dummschwätzer“: Der geschiedene Fletcher Reede (Jim Carey) ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Er enttäuscht häufig seinen Sohn Max, weil er seine Versprechen nicht einhält. Nachdem sein Vater ihn wieder einmal versetzt hat, wünscht sich Max auf seiner Geburtstagsfeier beim Kerzenausblasen, dass sein Vater 24 Stunden lang nicht lügen kann. Der Wunsch geht in Erfüllung.

„Lügen macht erfinderisch“ (The Invention of Lying): Im Film können alle nur die Wahrheit sagen, Lügen ist völlig unbekannt. Für Mark (Ricky Gervais) hat das unangenehme Folgen: Bei der Arbeit wird er gemobbt und sein großer Schwarm Anna (Jennifer Garner) sagt ihm, dass sie ihn zwar sympathisch, aber nicht sexy findet. Als er auch noch entlassen wird, spricht er die erste Lüge der Menschheit aus – und kommt auf den Geschmack.

Der Soziologe Peter Stiegnitz unterscheidet in seinem Buch „Die Lüge – Das Salz des Lebens“ zudem die Begriffe Selbstlüge („Das ist jetzt die letzte Zigarette.“), Notlüge („Das ist aber ein tolles Geschenk.“), Geltungslüge („Ich bin heute 20 Kilometer gejoggt.“), skrupellose Lüge („Nein, ich habe auch nicht gewusst, dass wir früher da sein sollen.“) und zwanghafte Lüge. 

Lügen ist viel aufwendiger als die Wahrheit zu sagen und muss erstmal gelernt werden

Zum Lügen brauchen wir laut der Psychologin Kristina Suchotzki ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen. Von Vorteil ist auch eine sogenannte Reaktionshemmung, also das Vermögen, eine automatische Reaktion zu unterdrücken. Bis zum dritten oder vierten Lebensjahr können Kinder die Wahrheit noch nicht zurückhalten, weil die entsprechenden Fähigkeiten noch nicht ausgebildet sind. „Kinder, die lügen, haben eine entscheidende soziale Komponente erworben, denn Lügen ist viel aufwendiger als die Wahrheit zu sagen. Es erfordert Geistesarbeit, logisches Denken, körperliche Kontrolle und sprachliches Talent“, meint Matschnig. Sie sollten allerdings rechtzeitig lernen, wo die moralische Grenze des Lügens verläuft.

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Wie nun umgehen mit Lügen und Wahrheit?

Da Lügen gesellschaftlich anerkannt und überall verbreitet sind, ist es nicht leicht, zu unterscheiden, wann die Wahrheit gesagt werden sollte und wann Schwindelei in Ordnung ist. Gelogen wird ja überall: In der Werbung, bei Versicherungen und von Politikern. „Dadurch verliert der Lügner die Motivation, ehrlich zu sein, denn er muss sich ja gar nicht mehr schämen, wenn sogar ganz oben gelogen wird“, schreibt Markus Schollmeyer in seinem Buch „Lüg‘ mich nicht an! Wie du herausfindest, was andere verheimlichen“. Lügner hätten viel zu selten Konsequenzen zu tragen, im Gegenteil: Diejenigen, die wie Edward Snowden und Julian Assange Geheimnisse aufdeckten, müssten mit Verfolgung und schweren Strafen rechnen. 

Monika Machnig findet wiederum, dass Geheimnisse und Lügen zum Leben dazu gehören und allein die Dosis die Würze macht: „Übersetzt auf die Lüge bedeutet das: Würden wir immer die Wahrheit sagen, wäre unser Leben sehr einsam und langweilig. Ein permanentes Lügen aber stürzt uns in Dauerstress und Chaos.“ Die kleinen Alltagslügen sind für Machnig nötig, um die Gesellschaft geschmeidig zu halten. Sie findet: „Mit permanenter Ehrlichkeit können wir andere verletzen und sogar Bekannte und Freunde verlieren. Sie ist daher nur in Ausnahmesituationen zu empfehlen.“

Volker Sommer ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College in London und vertritt in seinem Buch „Lob der Lüge. Wie in der Evolution der Zweck die Mittel heiligt“ die These, dass menschliche Intelligenz überhaupt erst durch unsere Fähigkeit zu täuschen entstanden ist. Er schreibt: „Ohne die Lüge als persönliche Trainerin unseres Intellekts wäre unser Leben sterbenslangweilig. Wir mögen unter ihr leiden, doch schenkt sie uns vieles von dem, was uns unterhält und erheitert, uns Spannung beschert, uns zum Weinen oder Lachen bringt.“ Es sei deshalb Zeit, die Lüge als Teil unserer intellektuellen Fähigkeiten und unserer Kultur zu akzeptieren und richtig mit ihr umzugehen.

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