Der Neid der anderen„Dass ich jetzt geimpft bin, erzähle ich keinem“

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Maske in der Faust Getty Images

Wer geimpft ist, freut sich: Endlich sicher, theoretisch auch ohne Maske. 

Köln – Trotz Corona-Pandemie mit einem Karnevalsgefühl im Bauch aufwachen. Wie an Weiberfastnacht, wenn die Vorfreude auf die kommenden sechs Tage alle anderen Gefühle übermannt. So hat sich Laura Müller am Tag ihres Impftermins gefühlt. Ende März 2021, ihrer persönlichen Weiberfastnacht. Die 31-Jährige ist Risikopatientin und transplantiert. Sie muss dauerhaft Tabletten nehmen, die ihr Immunsystem schwächen. Das macht sie anfällig für Infekte, die schwere und langwierige Verläufe hätten. „Deshalb war ich total erleichtert, als ich den Termin für die Corona-Impfung bekommen habe“, sagt die Kölnerin.

Freude, Erleichterung, endlich ein wenig Beruhigung – Gefühle, die man gerne mit anderen teilt. Nicht so Laura Müller, aus Angst vor den Reaktionen, aus Sorge um den Impfneid, von dem gerade so viel die Rede ist. Deshalb möchte sie auch nicht ihren richtigen Namen in diesem Artikel lesen. Auch weil sie das Gefühl selbst erlebt hat, von den Impfungen anderer zu erfahren, während man noch darauf wartet. „Das hat mir jedes Mal einen kleinen Stich versetzt und meine Sorge darum verstärkt, wann ich denn wohl endlich dran bin“, sagt sie. Gedanken, die gerade offenbar viele teilen – egal ob Risikopatient oder nicht. Woher aber kommt dieser gewisse Stich? Dieser Neid auf das Impfen?

Impfneid baut eine Schutzmauer auf

Zu Beginn steht der Vergleich mit anderen Menschen, die etwas haben, was wir selbst gerne hätten. Der Auslöser für Neid. Um dieses schmerzliche Gefühl zu überwinden, versuchen die entsprechenden Personen, einen Ausgleich zwischen sich und den anderen zu schaffen. „Neid kann also dabei helfen, seine Position zu ändern und zu verbessern“, sagt Dr. Jens Lange von der Fachgruppe Sozialpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zur generellen Funktion dieser Emotion. Gerade deshalb müsse Neid gar nicht immer negativ interpretiert werden – sondern könne auch als Motivation dienen. „Positiv ist das natürlich weniger, wenn diese Verbesserung mit gemeinen Tricks oder Betrug erreicht wird. Es ist also nicht eine bestimmte Ausprägung von Neid prinzipiell gut oder schlecht, sondern immer nach Individualfall zu bewerten“, sagt der Psychologe.

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Bezogen auf das Thema Impfneid möge man etwa an die Impfdrängler denken. Menschen also, die offensichtlich versuchen, ihre eigene, bisherige Situation zu verbessern – vielleicht jedoch nicht immer mit fairen Mitteln. Gleichzeitig baue Neid aber auch eine Schutzmauer auf: Der Unterschied zu anderen Personen und die Nachteilssituation, in der man sich befindet, wird abgewertet, verharmlost.

Neid steckt zwangsläufig in allen Menschen

Auf welche Dinge jeder für sich neidisch ist, richtet sich danach, was je nach persönlicher oder gesellschaftlicher Vorstellung als wertvoll wahrgenommen wird. Ein neues iPhone kann ebenso Gegenstand von Neid sein wie ein dickes Bankkonto und akademischer Erfolg oder auch physische Attraktivität und Popularität im Sozialleben. Ersteres kommt laut Lange eher bei Männern, letzteres eher bei Frauen vor. In einer Gesellschaft, in der gerade individuelle Freiheiten und Gesundheit ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, können so plötzlich auch Impfungen zum Neidgefühl verleiten. Neid darauf, dass Geimpfte womöglich bald verreisen, ins Restaurant gehen, sich mit anderen Geimpften treffen dürfen.

Ganz gleich aber erstmal, ob geimpft oder nicht geimpft – Lange glaubt, dass Neid in allen Menschen steckt. Denn zwangsläufig müsse sich jeder mit einer anderen Person vergleichen, um etwa definieren zu können: Was heißt es denn nun, nett zu sein? Netter als Person X oder weniger nett als Person Y? Und ist dieser Vergleich da, so ist es damit auch die Grundlage für Neid.

Wem erzähle ich, dass ich geimpft bin?

Engsten Familienmitgliedern und sehr guten Freunden hat Laura Müller von ihrer Impfung erzählt. Und wird sie explizit danach gefragt, verheimlicht sie auch nicht, dass sie die erste Dosis des Biontech-Impfstoffs bereits erhalten hat. Nur an die große Glocke hängen will sie das Thema nicht, schweigt auf ihrem sonst so belebten Instagram-Kanal dazu und schickt lieber nur ihrer Mutter das Erinnerungsfoto aus dem Impfzentrum. Denn trotz augenscheinlicher Freude derjenigen, denen sie es erzählt, fällt aus ihrer Sicht auf: Jeder und jede beziehe das Impfthema schnell auch auf sich selbst. „Da fallen dann hinter ‚Ich freue mich für dich‘ oft Sätze wie ‚Ich bin wahrscheinlich erst in zwei Jahren dran‘“.

Ähnlich vorsichtig ist Thorsten S., Anfang 50. Er wurde gemeinsam mit seiner Frau geimpft, die schwer an Multipler Sklerose erkrankt ist. Wenn es um solche knappen Güter wie eben nun die Impfungen geht, hält er den Umgang damit für eine Mentalitätsfrage. Er hält es sprichwörtlich lieber so wie der Stuttgarter, der seinen Porsche in der Garage stehen lässt. Rückzug also. Laut Psychologe Jens Lange eine der klassischen Reaktionen, den Neid anderer abzuwehren. „Einige verkennen jedoch auch, dass Neid ebenfalls wertschätzend gemeint sein kann. Zum Beispiel, wenn ich nach einem Urlaubsbericht sage: ‚Ich bin neidisch, das hätte ich auch gerne erlebt!‘. Das muss dann nicht unbedingt negativ gemeint sein. Ähnlich viel Anerkennung steckt in Situationen, auf die sich die Redewendung übertragen lässt, dass man Mitleid geschenkt bekommt, sich Neid aber erst verdienen muss.“

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Beim Impfen ist das anders. Einzelpersonen haben keinen Einfluss darauf, ob sie bald dran sind in der Reihenfolge. Wohl aber darauf, wie sie mit ihrem potenziellen Neid umgehen. „Wir alle befinden uns gerade in einer angespannten Situation. Wem daran gelegen ist, seine eigenen Emotionen in Bezug auf dieses Thema zu regulieren, dem hilft es vielleicht, zu akzeptieren, dass Neid etwas Natürliches und nichts Schlimmes ist. Oder sich von dem Thema abzulenken“, sagt Lange. Ablenken mit den positiven Dingen, dem Fortschritt: „Jeder soll bis Ende des Sommers ein Impfangebot bekommen. Das ist ein schönerer Gedanke, als sich die ganze Zeit auf die Impftermine anderer zu fixieren“, ergänzt Laura Müller.

Thorsten S. macht mit seiner Frau am Abend der Impfung allein den teuersten Champagner auf. Ohne dass davon jemand etwas mitbekommt. Richtig feiern können sie und auch Laura Müller ohnehin erst wieder, wenn der Impfneid kein Thema mehr sein wird. Wenn alle geimpft sind. Und wenn man sich wieder mit so viele Leuten treffen kann, wie man möchte. Oder eben bei der nächsten, und dann wirklich echten Weiberfastnacht.

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