Immunologe im Interview„Ältere werden wohl im Herbst eine weitere Impfung brauchen“

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Impfung Spritze in der Schale

Symbolbild 

  • Gut 50 Prozent der deutschen Bevölkerung sind immunisiert, da wachsen die Befürchtungen über nachlassenden oder lückenhaften Schutz.
  • Der Dortmunder Immunologe Carsten Watzl beantwortet zentrale Fragen.

Das Konsortium Biontech-Pfizer hat von Daten aus Israel berichtet, nach denen die Schutzwirkung seines Corona-Impfstoffs schon nach einem halben Jahr abnimmt. Wie gravierend ist das?

Die Leute, die sich jetzt im Sommer ihre Impfung abgeholt haben, kommen damit sicher gut durch den Winter. Es gibt aber Patienten, die ohnehin nicht gut auf die Impfung reagiert haben, zum Beispiel Krebspatienten, die unter Therapie stehe, Empfänger von transplantierten Organen, Menschen mit Erkrankungen, die das Immunsystem betreffen. Von ihnen haben viele einen schlechteren Schutz aufgebaut. Und wir wissen, dass Impfungen generell bei Älteren schlechter funktionieren als bei Jüngeren. Die Älteren und die Leute mit Vorerkrankungen sind aber leider ausgerechnet die, die bei einer Infektion ein höheres Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken. Das wird wahrscheinlich auch in Deutschland dazu führen, dass Ältere – über 80 – und Vorerkrankte im Herbst eine dritte Impfung brauchen, bevor die Zahlen – auch durch die Delta-Variante bedingt – wieder hochgehen.

Biontech beantragt aber eine Zulassung seines Präparats für Drittimpfungen für alle, nicht nur für Ältere und Risikogruppen.

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Die Frage ist nur, wann das nötig ist. Dass die Impfung nicht ein Leben lang hält, ist klar.Das gibt es bei Impfungen selten, gerade bei Atemwegserkrankungen ist ein lebenslanger Schutz schwer zu erreichen. Bei den Covid-19-Impfungen lernen wir noch täglich dazu, wir können die Dauer des Schutzes noch nicht absehen. Sicher braucht irgendwann auch der gesunde 40-Jährige eine Nachimpfung. Aber nicht mehr dieses Jahr, sondern vielleicht nächstes oder später.

Aber wir müssen uns alle darauf einstellen, alle ein bis zwei Jahre zur Corona-Impfung zu müssen?

Ob die Abstände so bleiben, müssen wir noch sehen. Die Lage ist dadurch schwieriger geworden, dass das Virus sich verändert. Die Impfstoffe sind auf die Ursprungsvariante ausgerichtet, die Delta-Variante entgeht ihnen etwas. Wenn ich die Auffrischung mit einem angepassten Impfstoff mache, habe ich vielleicht länger Ruhe. Das Problem bei Corona war ja, dass es am Anfang gar keine Grundimmunität in der Bevölkerung gab. Die entsteht jetzt durch Infektionen und Impfungen. Ich wäre da nicht so pessimistisch, zu sagen, man müsse jetzt jedes Jahr nicht nur zur Grippe-, sondern auch zur Corona-Impfung.

Das Gibraltar-Rätsel

Eine Impfquote von angeblich 100 Prozent – und trotzdem eine Sieben-Tage-Inzidenz von derzeit 490: Die Corona-Lage in Gibraltar hat zu Diskussionen über die Wirksamkeit von Corona-Impfungen geführt.

Im April hatte Chefminister Fabian Picardo die Bevölkerung der britischen Kronkolonie für durchgeimpft und das Gebiet für „corona-frei“ erklärt. Tatsächlich wurden dort insgesamt sogar schon 39000 Menschen vollständig geimpft – bei nur 34000 Einwohnern. Das würde (bei zwei Injektionen sogar eine Impfquote von deutlich über 100 Prozent bedeuten. Tatsächlich hat Gibraltar aber auch 8000 spanische Einpendler mit Impfungen versorgt. Andererseits wurden auch dort Kinder unter zwölf Jahren nicht geimpft. Die tatsächlich Impfquote in Gibraltar selbst dürfte also – immer noch beeindruckend – bei gut 90 Prozent liegen. Tatsächlich konnte Gibraltar am 8. April eine Corona-Fallzahl 0 verkünden, dabei blieb es auch im Mai. Am 4. Juni musste die Regierung der Kolonie dann mitteilen, man habe eine erste Infektion mit der aus Indien stammenden Delta-Variante entdeckt. Seitdem breitet sich die Infektion in Gibraltar wieder rapide aus.

Sind die Impfungen also angesichts der Delta-Variante wirkungslos? Keineswegs. Bis zum 8. April, dem Tat der vermeintlichen Freiheit von Corona, hatte Gibraltar 94 Tote im Zusammenhang mit Covid-19 gezählt. Seither ist trotz der neuen Infektionswelle kein einziges Todesopfer hinzugekommen. (rn)

Mit anderen, länger bekannten Coronaviren sind wir alle seit früher Kindheit konfrontiert – und dann auch vor schwerer Erkrankung in der Regel geschützt. Könnte sich das bei Covid-19 auch so einpendeln?

Das Virus wird uns nicht verlassen, es wird jeden Winter zu neuen Infektionswellen kommen. Vorzugsweise werden die sich anstecken, die noch nicht geimpft sind und noch nie infiziert waren oder deren Impfschutz nachgelassen hat und nicht aufgefrischt wurde. Und auch so eine neue Infektion wirkt wie eine Auffrischungsimpfung. Man kann nur hoffen, dass es dann zu keinem schweren Verlauf kommt.

Nun soll die Impfung ja auch andere schützen. Das Robert Koch-Institut sagt mir: Herr Neuß, Sie sind doppelt geimpft und spielen im Infektionsgeschehen epidemologisch keine Rolle mehr. Kann ich mich darauf wirklich verlassen?

Das hat mehrere Aspekte. Erstens haben wir die Einschränkungen am Anfang der Pandemie ja auch gemacht, weil ohne Lockdown so viele erkrankt wären, dass das Gesundheitssystem überlastet wäre. Wenn genügend Leute geimpft sind, ist diese Gefahr geringer. Auch der andere Aspekt, der Fremdschutz, wird weniger relevant, je mehr Leute geimpft sind: Auch wenn Sie das Virus theoretisch weitergeben könnten, spielt das praktisch keine Rolle, wenn auch Ihr Gegenüber geimpft ist. Und: Es gibt zwar auch Infektionen bei Geimpften, aber die Immunreaktion läuft bei ihnen schneller an, sie tragen damit weniger Virus in sich und sind deutlich weniger ansteckend als nicht Geimpfte.

Aber auch dieser Fremdschutz wird nachlassen, oder?

Sogar schneller als der eigene Schutz. Um eine Weitergabe von Infektionen komplett zu verhindern, brauche ich idealerweise so viele Antikörper schon in der Lunge, dass dieses Virus sofort abgefangen wird. Und die Zahl dieser Antikörper nimmt schon nach ein paar Monaten stark ab. Und wenn ich mich infizieren kann, kann ich das Virus theoretisch auch weitergeben. Was aber möglicherweise sogar Jahrzehnte lang im Körper bleibt, sind die Gedächtniszellen, die dazu führen könnten, dass ich bei einer Infektion keinen schweren Verlauf habe. Dann wäre ich vielleicht auch weniger infektiös als ohne Impfung.

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Es wird derzeit intensiv darüber diskutiert, Geimpfte anders zu behandeln als Ungeimpfte mit negativem Corona-Test. Wenn die Schutzwirkung so abnimmt, wäre das doch nur sehr vorübergehend vertretbar, oder?

Kommt drauf an. Es ist ja keine Frage von alles oder nichts. Als Geimpfter bin ich sicher weniger gefährlich für andere als als Ungeimpfter. Und wenn ich mir nun eine Lage vorstelle, in der bei wieder zunehmender Infektionszahl viele Leute zusammenkommen, zum Beispiel in einem Kino, dann werden Infektionen dort natürlich vorzugsweise an Nichtgeimpfte weitergegeben. Also macht es schon Sinn, manche Aktivitäten auf Geimpfte zu beschränken, denn unter ihnen ist das Risiko einer Weitergabe geringer. Corona-Schnelltests sind nicht 100-prozentig zuverlässig. Bei hohen Inzidenzen kann es durchaus sinnvoll sein, bestimmte Veranstaltungen auf Geimpfte zu begrenzen, um ein Superspreading-Ereignis zu vermeiden.

Wir müssen also tatsächlich noch auf die Inzidenzen schauen, wir dürfen nicht wie etwa in Großbritannien sagen, die seien nicht mehr so wichtig?

Wenn wir heute einen Inzidenzwert von 50 haben, ist der nicht mit 50 vor einem Jahr zu vergleichen. Aber so, wie es etwa in Großbritannien propagiert wird, dass also der Zusammenhang zwischen Inzidenz und Krankenhausauslastung gebrochen wäre, so ist es nicht. Den Zusammenhang gibt es durchaus noch, er ist wegen des Schutzes der Risikogruppen abgeschwächt, aber da. Bei einer Inzidenz von 500 steigt auch in Großbritannien die Krankenhausauslastung. Die Inzidenz ist ein Frühwarnwert, die Zahlen von den Kliniken folgen mit 14-tägiger Verzögerung. Also ist die Inzidenz wichtig, wir können uns aber höhere Werte leisten als vor einem Jahr – welche, das kann ich nicht festlegen.

Nun wird die Kurve der Erstimpfungen flacher. Verlieren wir den Wettlauf gegen neue Virusvarianten?

Diesen Wettlauf verlieren wir eher in Ländern, die noch weniger geimpft haben, etwa angesichts des großen Mangels in Afrika. Früher hatten wir in Deutschland zu wenig Impfstoff, jetzt gehen uns die Impfwilligen aus. Ich glaube aber nicht, dass alle Ungeimpften notorische Impfgegner sind. Manche haben sich vielleicht immer noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt. Das wird allerdings Zeit, denn schon wer sich jetzt impfen lässt, ist erst ab September voll geschützt. Eine Impfpflicht hilft da nichts, aber bessere Information, bessere Angebote wie Impfungen in Stadien, Aktionen in sozialen Brennpunkten. Das Ziel der Herdenimmunität gleich Impfquote von 85 Prozent halte ich nicht für erreichbar. Wir werden das Virus nicht durch Impfungen aus der Welt schaffen können, sondern müssen bei anderen Schutzmaßnahmen bleiben, zum Beispiel wieder eine Ausweitung der Maskenpflicht. Und wer nicht geimpft ist, der wird eine Immunität eben durch eine Corona-Infektion erwerben. Wer sich gegen eine Impfung entscheidet, entscheidet sich für eine Infektion, irgendwann wird es ihn treffen.

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