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Kölner Infektiologin„Die Maskenpflicht an Schulen ist unbedingt notwendig“

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Ein Schüler einer sechsten Klasse rückt seine Maske zurecht.

  • Die Corona-Fallzahlen steigen vielerorts wieder an, trotzdem kehren aktuell viele Angestellte in ihre Büros zurück. Auch die Schulen sind in NRW wieder geöffnet.
  • Ist das verantwortungslos? Nein, sagt die Kölner Infektiologin Prof. Clara Lehmann. Sie forscht an Covid-19 – und hält einen Impfstoff ab dem kommenden Frühjahr für realistisch.
  • Dennoch warnt sie vor einem bevorstehenden starken Anstieg: „Wir sind zu sorglos geworden.“ Man könne weitere Beschränkungen ab Herbst nur noch mit kollektiven Verhaltensänderungen verhindern.

Frau Lehmann, haben wir sechs Monate nach den ersten größeren Corona-Ausbrüchen in Deutschland das Schlimmste hinter uns? Prof. Clara Lehmann: Zumindest die Pandemie haben wir keineswegs hinter uns. Rein infektiologisch haben wir die erste Phase extrem gut gemeistert, vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Wir haben, insbesondere in Köln, aber auch viel Glück gehabt, dass die ersten Fälle nicht vor Karneval aufgetreten sind. Wirtschaftlich stehen wir vor großen Herausforderungen, aber medizinisch haben wir die Situation wirklich gut bewältigt. Jetzt kennen wir die Strukturen, die wir brauchen, um mit Corona-Infektionen umzugehen – und auch die Erkrankung kennen wir mittlerweile deutlich besser. Wir wissen, wie gefährlich sie ist. Die Sorge, unsere Krankenhäuser könnten die Situation zu einem späteren Zeitpunkt der Pandemie nicht bewältigen, habe ich nicht mehr.

Ist ein flächendeckender Impfstoff aus Ihrer Sicht der einzige Weg zu einer medizinischen Vor-Corona-Normalität?

Ja. Und meine Hoffnung ist, dass wir im nächsten Jahr einen Impfstoff haben. Der langsame Rückgang von Corona-Antikörpern nach überstandener Corona-Infektion macht die Situation natürlich komplizierter. Trotzdem denke ich, dass ein flächendeckender Schutz mit dem richtigen Impfstoff möglich sein wird. Therapiemöglichkeiten, wie beispielsweise neutralisierende Antikörper oder Medikamente wie Remdesivir, sind wichtig und können Leben retten – doch die Pandemie wird absehbar nur mit einem Impfstoff zu beenden sein.

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Was bedeutet „im nächsten Jahr“ konkret?

Wenn wir diesen Winter irgendwie überstehen und im nächsten Frühjahr oder Sommer erste Impfungen durchführen können, wäre das sehr gut. Ich habe die Hoffnung, dass das funktionieren kann.

Gehen Sie denn fest davon aus, dass wir einen Impfstoff bekommen? Bei HIV warten Patienten seit vielen Jahren auf selbigen.

Die ständigen Mutationen des HI-Virus machen die Impfstoff-Entwicklung besonders kompliziert. Bei SARS-CoV-2 ist die Entwicklung besser möglich, denn hier erkennen wir bislang weniger große Mutationen.

Private Feiern werden größer, Abstände kleiner. Es gibt immer mehr Corona-Partys und Demos ohne Masken. Angestellte kehren zurück in die Büros, politisch wird weiter gelockert. Sind wir zu sorglos geworden?

Ja, das denke ich schon. Wir sind zu sorglos geworden. Der Mensch ist in einer völlig neuen Situation zunächst meistens sehr besorgt – und gewöhnt sich irgendwann an sie. Jeder Einzelne von uns hat viele Einschränkungen erleben müssen.. So eine Krise zeigt die Probleme einer Gesellschaft auf dem Silbertablett.

Wenn wir jetzt allerdings weiter zu alten Verhaltensmustern zurückkehren, laufen wir medizinisch in eine Katastrophe. Dass wir diese auch verhindern können, hat sich im Frühjahr gezeigt. Es geht nicht darum, in den Modus zurückzukehren, in dem wir im März waren – das wäre bei den aktuellen Fallzahlen nicht notwendig. Aber wir sollten es weiterhin unbedingt verhindern, in kleinen Räumen ohne Masken zusammenzutreffen. Denn dort kommt es zu Infektionen.

Der Begriff der „zweiten Welle“ ist vor rund hundert Jahren entstanden, als man bei der Spanischen Grippe ab Herbst deutlich mehr Infektionen feststellen musste. Halten Sie die analoge Verwendung im Fall der Corona-Pandemie für sinnvoll?

Wir kennen die weitere epidemiologische Entwicklung von Covid-19 bislang nicht wirklich. Deshalb ist zunächst eine analoge Verwendung von einem Begriff „zweite Welle“, der im Rahmen einer ähnlichen Viruserkrankung wie die Spanische Grippe gebraucht wurde, nachvollziehbar. Inwiefern aber tatsächlich von plötzlich steigenden Infektionszahlen auszugehen ist, wissen wir nicht. Es ist jedenfalls denkbar.

Erwarten Sie eine Rückkehr zu härteren Einschränkungen im Herbst und Winter?

Das hängt tatsächlich davon ab, inwiefern sich jeder von uns an die Einschränkungen und Empfehlungen hält. Es wird dann sicherlich weiterhin zu kleinen Ausbrüchen kommen, die wir mit der richtigen Teststrategie erkennen und stoppen müssen. Wenn wir das schaffen – ähnlich wie im Frühjahr, nur unter anderen Voraussetzungen – dann haben wir es in der eigenen Hand, einen massiven Anstieg von Neuinfektionen und weitere Einschränkungen zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich unser Verhalten allerdings wieder ändern.

Bei Reiserückkehrern wurden vergleichsweise viele Infektionen festgestellt. Kam die Testpflicht zu spät?

Dahinter steht eine Teststrategie, die man möglicherweise früher hätte planen können. Jetzt ist die Testpflicht etwas spät gekommen – auf der anderen Seite können wir dankbar sein, heute so viele Tests anbieten zu können. Das ist im internationalen Vergleich ziemlich einmalig. Was wir jetzt herausarbeiten müssen, sind weitere Anpassungen der Teststrategie. Infektionscluster zu identifizieren und engmaschig zu testen, wird in den kommenden Monaten entscheidend sein.

Die Schulen in NRW sind wieder geöffnet. Macht Ihnen das Sorgen?

Es ist wichtig, dass die Schulen wieder öffnen. Es wäre nicht in Ordnung, die Schulen weiter zu schließen. Kinder haben Anrecht darauf gebildet und versorgt zu werden. In diesem Frühjahr wurde teilweise deutlich, dass wirtschaftliche Ungleichheiten verschärft werden, wenn Kindern die Schule verwehrt wird. Für die Sorge von Eltern und Pädagogen habe ich großes Verständnis. Natürlich muss die weitere Entwicklung genau verfolgt werden – und gegebenenfalls wird man mit neuen Maßnahmen reagieren müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Öffnung der Schulen mit Maskenpflicht jedoch die einzig denkbare Option.

Ist die Maskenpflicht an Schulen angemessen? Kritiker sprechen von einer zu großen Zumutung für die Schüler.

Diese Maßnahme ist unbedingt notwendig, weil Masken Mikrotröpfchen, die entscheidend für Corona-Infektionen sind, nachweislich vermindern. Natürlich stellen sie eine zusätzliche Belastung für jeden einzelnen dar, die ich selbst auch aus dem Krankenhaus kenne. Doch weil wir den großen medizinischen Nutzen von Atemmasken kennen, wäre es unverantwortlich, sie an Schulen nicht einzusetzen.

Der Schulentwicklungsberater Michael Felten schlägt halbe Klassen und halbe Schulzeiten als Alternative vor. Wäre ein solches Konzept aus medizinischer Sicht zu begrüßen?

Hierzu gibt es noch keine Studien. Wahrscheinlich ist es besser, weniger Schüler in einer Klasse zu haben, ja. Wie groß aber der Unterschied tatsächlich wäre, inwiefern schon die Maskenpflicht für eine ausreichende Sicherheit an Schulen sorgen wird – all das wissen wir nicht. Es gibt noch viele unbeantwortete Fragen.

Eine neue Studie aus Tübingen legt nahe, dass Kinder weniger ansteckend sind als Erwachsene. Christian Drosten kam im April mit seinem Team zu einem völlig anderen Ergebnis. Wie bewerten Sie die Kenntnislage?

Es gibt eine Vielzahl von Studien, in denen versucht wird, die Rolle der Kinder in dieser Pandemie nachzuvollziehen – nicht nur in Deutschland. Die Ergebnisse sind sehr widersprüchlich, das stimmt. Wissenschaftlich ist es schwierig, hier zu einem klaren Ergebnis zu kommen, weil der größte Teil der Erkenntnisse in Ländern gesammelt wurde, die sich bereits unter Abriegelung befanden oder mit der Umsetzung anderer Präventivmaßnahmen begonnen hatten. Kinder sind Virusträger, das wissen wir sicher. Auch sieht ihre Immunantwort wahrscheinlich anders aus als bei Erwachsenen, wodurch es möglicherweise zu milderen Verläufen kommt. Alles darüber hinaus ist daher aktuell Spekulation.

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