Plötzlich 20Warum sich manche Menschen ein Tattoo nach dem anderen stechen lassen

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Tattoos sind im Mainstream angekommen.

  • Immer wieder ist von Tattoo-Sucht die Rede, wenn Menschen sich ein Motiv nach dem anderen auf den Körper stechen lassen.
  • Kann man dabei überhaupt von einer Sucht sprechen? Einer Persönlichkeitsstörung, Masochismus?
  • Im Gegenteil, sagt der Düsseldorfer Diplom-Pädagoge Tobias Lobstaedt. Und klärt im Gespräch unter anderem über die gesunden Seiten des Tätowierens auf.

Köln – „Hast Du eins, hast Du keins“ –  Eine gängige Meinung ist ja, dass Tattoos süchtig machen. Ab dem wievielten Tattoo kann man von Sucht sprechen, und gibt es die überhaupt?

Tobias Lobstaedt: Ich habe viele Interviews mit tätowierten Jugendlichen geführt und wissenschaftlich ausgewertet. Dabei taucht zwar immer wieder der Satz „Es ist wie eine Sucht“ auf. Ich interpretiere Tätowierungen aber nicht als solche. Zumindest nicht auf der gleichen Ebene einer Betäubungsmittel- oder Spielsucht, zu denen ein übermächtiger, wiederkehrender Zwang gehört, der das ganze Denken, Fühlen und Handeln der betroffenen Person dominiert mit dem Ziel der dauerhaften Suchterfüllung. Die meisten lassen sich aber viel Zeit zwischen den Studio-Besuchen und lassen sich nicht aus dem Affekt heraus stechen.

Bei wiederholten Tätowierungen geht es vielmehr darum, das Selbstwertgefühl zu stärken, indem dadurch die eigene Attraktivität gespiegelt wird, man sich mit einer sozialen Gruppe identifiziert oder die Leistung, also das Durchhaltevermögen in Bezug auf Schmerzen, anerkannt wird.  Im Lebensverlauf kann das Selbstwertgefühl infolge besonderer Ereignisse, wie Krisen oder Krankheiten aus dem Gleichgewicht geraten. Ich gehe davon aus, dass wiederholte Tätowierung ein Mittel zur Balance des Selbstwertgefühls ist. „Sucht“ beschreibt hierbei höchstens den drängenden Wunsch, zurück ins Gleichgewicht zu kommen.

Man könnte meinen, Menschen, die sich tätowieren lassen, und damit ihre intimsten Wünsche, Vorlieben oder Geschichten zur Schau stellen, seien salopp gesagt: exhibitionistisch veranlagt?

Auf einer soziologischen Ebene dienen Tätowierungen der Selbstdarstellung. Tätowierte möchten damit ihre Individualität anzeigen, ihre Vorlieben zu erkennen geben oder ihren Körper, auch für andere sichtbar, als Schmuck aufwerten, der aber echt sein muss. Und das ist eine Tätowierung nur dann, wenn sie für immer ist und unter Schmerzen erworben wurde. Von Friedrich Nietzsche stammt das Zitat: Im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust. Er meint damit, dass es eine existenzielle Erfahrung ist und zur Selbsterkenntnis führen kann. Allerdings haben nur die wenigsten Tätowierten eine Lust am Schmerz.

Womit sich auf die Frage nach der masochistischen Veranlagung oder einer anderen Persönlichkeitsstörung erübrigt hätte. Schließlich tut das Stechen teils höllisch weh. 

Die Tätowierung hat in meiner Sichtweise nichts per se Krankhaftes, sondern beweist im Gegenteil eher eine spezielle Form der Selbstfürsorge. Vor dem Gang zum Tätowierer setzt man sich mit dem eigenen Körper auseinander und nach einer frischen Tätowierung wird er pflegend umsorgt. Tattoo-Trägerinnen und -träger sind nicht stärker vom Narzissmus betroffen als andere Menschen. Vielmehr können Tätowierungen ein Weg sein, mit narzisstischen Kränkungen umzugehen.

Sie sagen: Viele Menschen lassen sich nach einem Verlust oder einem anderen prägenden Lebensereignis tätowieren. Tun sie das, um damit das Erlebte besser zu verarbeiten?

Eine sichtbar getragene Tätowierung dient in einem akzeptierenden Umfeld oft als so genanntes Talking Piece, mit dem man ein Kommunikationsangebot macht. Dazu hat jede Person die eigene Geschichte, die dann auch gerne verraten wird. Tätowierungen drücken oft ambivalente Gefühle zur eigenen Biografie aus, für die es (noch) keine Worte gibt.

Gibt es, was die Motivation betrifft, einen Unterschied zwischen Schriftzügen und Motiven? Und steckt überhaupt immer ein Motiv" dahinter?

Dazu habe ich keine klare Antwort. Als Motive finden sich heute oft Symbole, die auf die jeweilige Zugehörigkeit zu einer Gruppe, auf Vorlieben und Abgrenzung verweisen. Das kann das Logo einer Band sein oder eine Zeile aus deren Songtexten. In beiden Fällen geht es um die Identifikation mit einer Gruppe. Ein weiteres Beispiel dafür sind Tattoos mit Bezug zur eigenen Familie. Man sieht in den letzten Jahren vermehrt Namen von Familienmitgliedern in Schreibschrift, davor waren Foto-ähnliche, also realistische Bilder von Angehörigen sehr beliebt. Auch hier zeigt sich eine Ambivalenz, denn die Motive oder Zeilen können als Symbol von Zugehörigkeit und gleichzeitig als Loslösung von der Familie gelesen werden.

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Menschen tätowieren sich seit Jahrtausenden, warum waren sie in der Gesellschaft lange Zeit so verpönt? Und auch in der Forschung mit (psychischen) Makeln verknüpft?

Für die europäische Sichtweise sind schriftliche Tattoo-Zeugnisse aus dem Altertum belegt, als die Tätowierung dazu diente, Sklaven zu kennzeichnen. Und den Frühchristen wurde  zwangsweise ein Kreuz als Erkennungszeichen und Stigma tätowiert. Auch ist das schlechte  Image historisch dadurch zu erklären, dass Tätowierungen oftmals von „fahrenden“ Berufsgruppen getragen wurden – also von Seeleuten, Soldaten, Schaustellern, die von der sesshaften Gesellschaft misstrauisch beäugt wurden. Der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso meinte sogar, an einer Tätowierung könne man den geborenen Verbrecher erkennen. Diese Vorstellung griffen die Nationalsozialisten auf und ordneten ab 1938 die Deportation tätowierter Schausteller in sogenannte Heilanstalten an. Mitte der 1970er Jahre fand die Tätowierung ihren Weg in die Jugendkultur über Motorradclubs, auch Rocker galten der Mehrheitsgesellschaft als Outlaws.

Es gibt Rummelplätze mit Tattoo-Buden, Über-50-Jährige stellen ihre Tätowierungen stolz zur Schau und selbst das letzte Tabu ist gefallen: ein Tattoo im Gesicht. Sind Tattoos im Mainstream angekommen?

Die Akzeptanz ist vom privaten und beruflichen Umfeld abhängig – und vom Kulturkreis. Eindeutig aber gibt es eine eine größere Offenheit gegenüber Tätowierten, manchmal aus der Not heraus. In der Krankenpflege ist es etwa kein Tabubruch mehr, wenn Mitarbeitende tätowiert sind. Die Gesellschaft hat durch den Pflegenotstand gelernt, dass tätowierte Fachkräfte hochqualifizierte Arbeit leisten. Das war zur Jahrtausendwende noch anders. Dennoch: Eine erfahrene Tätowiererin rät auch heute manchmal davon ab, sich am Hals tätowieren zu lassen, wenn es sich bei der Person etwa um eine Tagesschausprecherin handelt.

Es scheint, als ob viele Jugendliche wahlloser werden in der Wahl der Motive, sie lassen sich selbst krakelige Schriftzüge, Einkaufswagen oder Pizzaschachteln auf die Haut stechen. Was steckt hinter dem so genannten „Ignorant Style“, ein Protest gegen den allgegenwärtigen Perfektionismus? 

Tattoos unterliegen Moden. Steiß-Tattoos galten vor zwanzig Jahren geschmacklich als erste Wahl und wurden dann von einer Boulevardzeitung als „Arschgeweih“ verunglimpft. Als Motive finden sich wie gesagt oft Symbole, die auf die jeweilige kulturelle Zugehörigkeit, Vorliebe und Abgrenzung verweisen. Liegt der Grund für ein Tattoo darin, Aufmerksamkeit zu erhaschen, was durch das bloße Vorhandensein eines Tattoos nicht mehr funktioniert, muss eben das Motiv auffallen. Da sich ein Sinn aber nicht nur aus dem Motiv ableiten lässt, sondern aus dem Ritual, ist der Akt des Tätowierenlassens mitunter wichtiger als das Motiv.

Wer sich aus rein ästhetischen Gründe traditionelle Tattoos stechen lässt, trivialisiert eine Körperkunst, die vielen indigenen Gemeinschaften über Jahrhunderte von christlichen Missionaren verboten wurde. Was sagen Sie zum Vorwurf der kulturellen Aneignung? 

Die westliche Tätowierung ist spätestens seit Beginn der Neuzeit eine kulturelle Aneignung. Eine erste Popularität begann mit den Seefahrern, die Ideen vom Naturmenschen und der sexuellen Freiheit von ihren Reisen aus der Südsee mitbrachten und die Kulturtechnik des Tätowierens mit westlicher Ikonografie verknüpften. Daraus entstanden die Motive von Palmen, Sonnuntergängen, Segelschiffen. Mit den ursprünglichen Motiven polynesischer Inselbewohner, die den Status von Krieger oder Häuptling anzeigten, hatte das nichts mehr zu tun. Auch christliche Tätowier-Motive wurden zum Kulturgut. Römer tätowierten Frühchristen zwangsweise Kreuze auf die Haut. Die kleine Glaubensgemeinschaft machte aus dem ausgrenzenden Stigma ein In-Group-Zeichen, bei dem das Kreuz zugleich Leiden und Erlösung bedeutete. Diese Tradition der religiösen Tätowierung lebte bis ins 20. Jahrhundert weiter, vor allem dort, wo sich kleine Glaubensgemeinschaften gegen große Religionsgruppen behaupten mussten. Heutige Kreuz-Tätowierungen – etwa von prominenten Fußballspielern – sind von historischen Funktionen und Bedeutungen abgekoppelt. In der individuellen Biografie können sie aber sinnvoll sein.

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