Kolumbien boomt seit Narcos„Der Hype um Pablo Escobar macht mich wütend“

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Isa Builes setzt sich für ein neues Medellín ein.

Isa Builes reicht es. Sie kann die Geschichten von der einst gefährlichsten Stadt der Welt, von der Verherrlichung Pablo Escobars nicht mehr hören. Dass man ihn zum Helden einer US-Serie gemacht hat, die ihn und den kolumbianischen Drogenkrieg glorifiziert. Dass „Narcos“ inzwischen so erfolgreich ist, dass schon die dritte Staffel auf Netflix zu sehen ist. All das ist ihr zu viel. Zu viel des Bösen.

„Das macht mich wirklich sehr wütend“, sagt Isa Builes. „Sie zeigen Medellín immer nur als Hort der Gewalt. Die Lösungsansätze werden verschwiegen“, so die 25-Jährige.  „Warum macht man nicht einmal einen Film darüber, was gemeinnützige Organisationen wie meine in Medellín leisten?“ Als Directora Administrativa arbeitet sie für die Stiftung „Beatriz Londoño, die seit 35 Jahren im Problemviertel Santo Domingo aktiv ist.

Isa Builes will Medellín verändern

Hier oben in den Bergen hat die Stiftung, die den Namen ihrer Gründerin trägt, 84 Häuser für bedürftige Familien errichtet. Eine richtige kleine Gemeinde mit dem Namen „Nuestra Señora del Rocio“ ist hier entstanden. Die Häuser gruppieren sich um ein Bildungszentrum, das auch als Anlaufstelle für Gewaltopfer und Vertriebene des kolumbianischen Bürgerkriegs dient. „Ich sorge dafür, dass alles funktioniert“, sagt die Verwaltungsdirektorin Builes über ihre Arbeit.

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Isa Builes gehört zu einer aufstrebenden Generation gut ausgebildeter junger Menschen, die Medellín verändern wollen. Nicht umsonst gilt die Stadt im Nordwesten von Kolumbien als dynamischste des ganzen Landes. Von dem Gemeindezentrum oben in den Bergen mitten im Elendsviertel blickt die junge Frau mit den langen braunen Haaren über die Zweieinhalb-Millionen-Metropole.

„Es gibt hier immer noch Menschen, die im Dreck leben“

Sie selbst lebt in einer Wohnung im Zentrum, das unten im Tal liegt. Es ist ein ganz anderes Medellín, als das, mit dem man hier oben konfrontiert wird. „Je höher man auf die Berge steigt, umso elender leben die Menschen“, sagt Builes. Dort unten jedoch tanzt sie Rumba in den Bars der Ausgehmeile der Calle 70 oder sie probiert eines der neuen veganen Restaurants im Stadtteil Laureles aus.

Doch so oft es geht, fährt sie hinauf nach Santo Domingo, das zur Comuna 1 gehört. Sie läuft mit ihren hellen Sneakers über den braunen Matsch ein Stück den Berg hinauf und zeigt stolz auf die gelben Häuser aus Beton am Hang, die ihre Stiftung gebaut hat. „Es gibt hier aber immer noch Menschen, die im Dreck leben und sich notdürftig mit ein paar Pfählen und einer Plastikplane eine Unterkunft geschaffen haben“, sagt Builes.

In Santo Domingo ließ Escobar Kinder für sich arbeiten

In Santo Domingo ließ Escobar früher Kinder für sich arbeiten. Hier warb er die sogenannten Sicarios, die Auftragsmörder, an, die für wenig Geld zu Vielem bereit waren. Die gefährliche Arbeit für die Drogenkartelle schien ihnen der einzige Ausweg aus dem Leben in Armut. „Das Viertel hat jede Facette des Kriegs erlebt“, sagt Builes. „Die Kämpfe der Drogenkartelle, die Ausschreitungen zwischen den linken Guerilleros und den rechten Paramilitärs.“

Ihre Stiftung ist insbesondere für Frauen und Kinder da, diejenigen, die am verletzlichsten sind und am meisten unter der kolumbianischen Gewalt gelitten haben. Für Frauen wie Carola (Name geändert), die schon zwei Mal Opfer einer Vergewaltigung wurde. Beim ersten Mal war Carola erst 12 Jahre alt: „Ein Krimineller“ habe sie damals in Medellín überfallen, sagt sie. „Das zweite Mal passierte es vor knapp zwei Jahren in einem kleinen Ort sechs Autostunden von Medellín entfernt, es waren drei Guerilla-Kämpfer.“

„Die Männer haben gedroht, meine Familie umzubringen“

In dem Ort hatte Carola als Angestellte auf einer Finca gearbeitet. „Ich habe mich nicht getraut, zur Polizei zu gehen. Die Männer haben gedroht, meine Familie umzubringen“, so die 22-Jährige. Die Guerilleros bedrohten ihre Familie weiter, bis sie im Juni 2016 mit ihren beiden Töchtern und ihrem Lebensgefährten nach Medellín flieht und Hilfe bei der Stiftung findet.

Carolas Familie gehört zu den mehr als sechs Millionen Vertriebenen des kolumbianischen Bürgerkriegs, den Präsident Santos und die Guerilla-Kämpfer Ende vergangenen Jahres für beendet erklärt haben. Auf dem Papier. Die Realität auf dem Land und auch in manchen Teilen Medellíns ist eine andere. „Hier gibt es immer noch viel Gewalt“, sagt Isa Builes. Durch „Bacris“, „Bandas Criminales“. Die kriminellen Banden sind häufig ein Auffanglager für ehemalige linke Guerilleros und rechte Paramilitärs, die mit Ende des Krieges ihre Funktion in der Gesellschaft verloren haben und keine andere Perspektive für sich sehen, als kriminell zu werden.

Musik- und Malunterricht – damit Kinder keine leichte Beute für die Bandenbosse sind

Dass der Einfluss der Bandas Criminales nicht größer wird, das ist ein Ziel von Isa Builes. Die Kinder im Viertel haben entweder nachmittags oder vormittags Schule. In der verbleibenden Zeit bietet die Stiftung im Bildungszentrum Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe an. Außerdem fördern Ehrenamtliche die Talente der Kinder, sorgen für Musik- oder Malunterricht. Damit die Kinder eben keine leichte Beute für die Bandenbosse sind, damit sie eine Perspektive haben.

Dass die „Stadt des ewigen Frühlings“, wie Medellín wegen des ganzjährig milden Klimas  auch genannt wird, häufig noch als Hochburg brutaler Gewalt und harter Drogen gilt, das stört nicht nur Isa Builes. Das „Medellín Convention & Visitors Bureau“ – eine Interessensgemeinschaft, die aus rund 200 lokalen Unternehmern besteht – arbeitet emsig daran, dass sich der Ruf der zweitgrößten kolumbianischen Stadt in der Welt ändert.

Die einstige „Mordhauptstadt“ ist jetzt „Modehauptstadt“

Mitarbeiterin Claudia Patricia Valencia führt ihre Besucher gerne zu Symbolen des schnellen Aufstiegs, des Wandels der Stadt: So ist in Santo Domingo, mitten im Problemviertel, eine imposante Bibliothek entstanden. Eine Seilbahn, die Metrocable, verbindet das Elendsviertel in den Bergen inzwischen mit dem Zentrum Medellíns. In der einstigen „No-go-Area“ Comuna 13 gibt es jetzt Rolltreppen, die die armen Gegenden auf den Bergen mit den reicheren im Tal verbinden. Auch Medellín hat rund um die Vía Primavera im schicken Stadtteil „El Poblado“ nun so etwas wie ein Hipster-Viertel.

Hier haben sich viele junge Designer mit ihren Boutiquen niedergelassen. Die einstige „Mordhauptstadt“ ist zur „Modehauptstadt“ Kolumbiens geworden. Wurden 1991 in Medellíns Straßen noch 266 Morde pro 100.000 Einwohner registriert, sind es heute „nur“ noch 20. Das Wall Street Journal kürte Medellín zur „innovativsten Stadt der Welt“, 2016 wurde sie außerdem mit dem  „World Travel Award“ ausgezeichnet. All das freut Claudia Patricia Valencia sehr: „2020 wollen wir eine Million Besucher in Medellín haben“. Kein unrealistisches Ziel: Kamen 2011 noch 382.000 Touristen nach Medellín, waren es 2016 schon mehr als 700.000.

„Jeder fragt nach Pablo Escobar“

Dass einige von ihnen womöglich auch wegen des Erfolgs der US-Serie Narcos nach Medellín kommen, erwähnt Claudia Patricia Valencia nicht. Touristenführer Luis Ospina hingegen sagt: „Jeder fragt nach Pablo Escobar“. Als er vor sechs Jahren mit seiner Arbeit als Guide begann, habe er alle drei Monate eine Tour zu Escobar angeboten. Heute dagegen führt er Touristen aus aller Welt zwei Mal täglich auf den Spuren des Drogenbarons durch seine Stadt. „Insbesondere Nordamerikaner“, sagt er, „aber auch Europäer und Asiaten.“

Ospinas Rolle ist eine ambivalente: Einerseits lässt er sich in Gangstermanier mit hochgezogener Kapuze neben Escobars Bruder, dem einstigen Buchhalter des Kartells, fotografieren und zeigt die Bilder bei seinen etwa vierstündigen Touren herum, die pro Person rund 25 Euro kosten. Andererseits berichtet er von der Angst, die er als Kind hatte, als in seiner Nachbarschaft eine von Escobars Bomben explodierte.

Medellíns Bürgermeister verurteilt Narco-Tourismus

In jedem Fall verdient Ospina am Narco-Tourismus, den Medellíns Bürgermeister Federico Gutiérrez im vergangenen Jahr scharf kritisiert hat. Der Touristenführer aber findet:  „Wir dürfen die Vergangenheit nicht verschleiern. Ein Land, das seine Vergangenheit nicht kennt, ist verdammt.“ Ospina zeigt das Haus im Westen von Medellín, in dem Escobar sich gegen Ende seines Lebens versteckte. „RIP, Pablo“, hat jemand auf die Mauer daneben gesprüht. Über die Rückseite des Hauses soll Escobar damals, im Dezember 1993, geflüchtet und schließlich durch die Kugeln der Polizisten – oder gar durch seine eigenen – gestorben sein. In einem Nachbarhaus des Originalschauplatzes hat Netflix die Todes-Szenen für das Ende der zweiten und den Anfang der dritten Staffel gedreht.

„Für die Kolumbianer hat die Netflix-Serie keine große Bedeutung“, sagt Ospina. „Kolumbianer reden eher über „El Patrón del Mal“: der Patron des Bösen“. Das kolumbianische Äquivalent verurteilt die Taten des brutalen Massenmörders im Gegensatz zur Netflix-Serie schon im Titel. Ospinas Eindruck: Die Mehrheit, 60 Prozent, der Kolumbianer hält nichts von Escobar – der Rest hingegen schon. Für sie sei er ein kolumbianischer Robin Hood. Zu welchem Teil er selbst sich tatsächlich zählt, bleibt undurchsichtig. Er wolle Escobar nicht verurteilen, sagt Ospina. „Wäre es nicht Escobar gewesen, wäre es ein anderer gewesen.“

Auf dem Friedhof liegt Escobar neben seinen Opfern

So protzig der Drogenbaron zwischenzeitlich auch gelebt hat, so schlicht ist seine letzte Ruhestätte. Auf dem Friedhof „Jardines Montesacro“  ist Pablo Escobar, so scheint es, einer von vielen. Sein Grab liegt nur ein wenig abseits von den anderen. Ein nüchterner schwarzer Marmorstein neben der Kirche trägt seinen Namen. Jemand hat frische Sonnenblumen auf Escobars Grab gestellt. Auf dem Friedhof liegt Escobar neben seinen Opfern, ist ihnen vielleicht so nah wie nie zuvor.  An Escobars Grab steht eine Frau. Warum sie hier ist? „Aus Neugier“, entgegnet sie und verlässt den Friedhof eilig.

Der Reiseführer berichtet nun, dass ein angeheirateter Onkel von ihm ebenfalls auf dem Friedhof liege. Er sei ein Helfershelfer Escobars gewesen und zwei Mal im Jahr für ihn nach Chicago gereist, um sich um die Verteilung des Kokains zu kümmern. Er sei im Drogenkrieg gestorben, während seine Tante und sein Cousin einen Anschlag auf das Haus der Familie 1985 in Medellín überlebt hätten. Er zeigt Fotos seines Cousins, dessen Narbe im Gesicht laut Ospina von dem Angriff zeugt.

„Pablo Escobar war ein guter Mensch“

„Wir alle haben Narben aus dieser Zeit“, sagt der 41-Jährige, „aber wir haben das alles hinter uns gelassen.“ Wenn man in das Viertel mit dem Namen „Pablo Escobar“ fährt, gewinnt man einen anderen Eindruck: Die Menschen hier sehen Escobar als ihren großen Gönner. „Die Regierung wollte den Namen des Viertels ändern lassen, aber die Bewohner haben sich dagegen gewehrt“, erzählt Ospina. Der Drogenbaron ließ hier am Rande der Stadt hunderte Häuser erbauen, die er Obdachlosen schenkte. Zum Beispiel an Ismael Benítez Montoyas Schwester: „Die kolumbianische Regierung hat nichts für uns getan. Escobar schon.“ Seiner Schwester habe er ein Haus spendiert mit Wasserleitung und Elektrizität.

In den Elendsvierteln von Medellín leben auch heute noch viele Menschen ohne „solchen Luxus“. „Er war ein guter Mensch“, sagt Montoya, „auch wenn er schlimme Dinge getan hat.“ José Bertulgo, der einen kleinen Kiosk im Viertel betreibt, ist ein Bekannter von Montoya. Auch er hat von Escobars Drogengeld profitiert. „Escobars Mutter hat meiner Familie eine Parzelle geschenkt.“ Seit 17 Jahren lebt der 71-Jährige mit seiner Familie in einem kleinen Haus auf dem Grundstück.

„Ich habe für Escobar gearbeitet“

Ein weiterer Passant bleibt an Bertulgos Kiosk stehen: Früher, so erzählt er es, sei Escobar mit Geldscheinbündeln in den Taschen durch die Straßen des Viertels geschlendert. „Jeder, der ein Problem hatte, konnte ihn ansprechen.“ Seine Nichte sei damals sehr krank gewesen. In Mexiko hätte sie eine bessere Behandlung erwartet als in Kolumbien. „Escobar hat mir das Geld für meine Nichte persönlich gegeben“, sagt er. „Damit es ihr bald besser geht“, habe er zu ihm gesagt.

Egal wen man im Viertel anspricht, jeder hat eine Geschichte zu erzählen, die zur Legendenbildung des Robin Hood von Medellín beiträgt. Der Bananenverkäufer an der Ecke, erklärt stolz: „Natürlich kannte ich Escobar persönlich. “ Benjamín Villegas reckt das Kinn und erklärt nach einer Pause: „Ich habe für ihn gearbeitet.“ Bei weiterem Nachfragen stellt sich heraus: Villegas war nur Teil der Baukolonne, die ein Haus für Escobars Anwalt errichtete.

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Am Eingang des Viertels ist eine Art Altar errichtet, der Escobars Konterfei zeigt. Daneben steht „Hier atmet man den Frieden“. Für seine Opfer mag dieser Ort nur schwer zu ertragen sein. Während im Barrio Escobar dem Paten von Medellín  gehuldigt wird, findet man in Santo Domingo in der Comuna 1 eine Hommage an die Opfer des Drogenkrieges. Auf einer Mauer über einem Kinderspielplatz prangt dort ein riesiges Graffito. Dort heißt es: „Sie wollten uns beerdigen. Sie wussten nicht, dass wir  Samen sind.“ Aus ihnen wird nun ein neues Medellín entstehen.

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