Ulrike Bliefert über den frühen Tod der MutterIch sprach mit ihr im Himmel

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Ulrike Bliefert

  • Als Ulrike Bliefert ein Jahr alt war, starb ihre Mutter. Eine Hypothek, die sie ein Leben lang mit sich herum trug.
  • In einem Buchbeitrag beschreibt sie, dass es Zeiten gab, in denen sie ihr dafür Vorwürfe gemacht hat, warum sie sie im Stich gelassen hat.
  • Eindrucksvoll beschreibt sie, wie trotz vieler Widrigkeiten ihren Weg ins Leben fand und welche Rolle ihre Lehrerin dabei spielte.

Meine Mutter ist gestorben, als ich eineinhalb Jahre alt war. Es war absehbar, dass sie sterben würde. Obwohl Abtreibung in meinem Geburtsjahr 1951 eigentlich noch keine Option war, hatte man ihr aus medizinischen Gründen dringend davon abgeraten, mich auszutragen. Ein Schwangerschaftsabbruch kam für meine Mutter jedoch nicht infrage, und auch mein Vater war dagegen.

Diese Hypothek trage ich ein Leben lang mit mir herum: Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte meine Mutter vielleicht noch ein Jahr länger gelebt. Vielleicht auch nicht. Auch für meinen Vater war die Entscheidung eine Katastrophe. Meine Eltern waren erst drei Jahre verheiratet. Das mit der Risikoschwangerschaft habe ich erst mit 16 Jahren erfahren. Aber dass meine Mutter tot war, wusste ich, seit ich denken konnte. Ich besaß ein Foto von ihr, das ich mir oft anschaute. Es ist für mich zum Symbol meines persönlichen Dramas geworden. Es begann mit der Wiederverheiratung meines Vaters, als ich fünf Jahre alt war. Danach musste das Foto auf Drängen meiner Stiefmutter von der Wand genommen werden. Wörtlich sagte sie: „Das ist jetzt ad acta.“ So etwas tut weh.

Ich weinte viel

Sie brachte mich zu einem Spielplatz, setzte mich auf die Rutsche und verhöhnte mich als „Memme“, weil ich auf dem Hosenboden gelandet war. Mein Vater, der damals noch nicht mit ihr verheiratet war, stand daneben – wort- und tatenlos. Mein Vater intervenierte auch in den folgenden Jahren nie. Alles, was er zu den Demütigungen seiner Frau mir gegenüber zu sagen hatte, war: „Ich halte mich da raus. Ihr müsst euch zusammenraufen.“ Ich weinte viel und sprach dabei – das war mein einziger Trost – mit meiner richtigen Mutter oben im Himmel.

Am Anfang verstand ich die Stiefmutter nicht einmal, weil sie kein Hochdeutsch sprach, da setzte es auch schon die ersten Schläge. Ich hatte Todesangst vor ihr. Ohne erkennbaren Anlass schlug sie zu, wann und wo es ihr passte. Wenn ich wegen ihres Dialekts nicht begriff, was sie mir aufgetragen hatte einzukaufen, traute ich mich nicht nachzufragen, und wenn ich dann das Falsche brachte, waren wieder Schläge fällig. So ging das jahrelang, bis ich 18 war. Die Interventionsversuche einer Lehrerin und der Mutter einer Schulfreundin zogen schwerste Prügelstrafen nach sich – wegen „Nestbeschmutzung“.

Zur Person

Ulrike Bliefert, Jahrgang 1951, ist Schauspielerin, Hörspiel- und Featuresprecherin, Drehbuch- und Buchautorin. Sie ist Mitglied der Deutschen Filmakademie. Bliefert begann in Köln ein Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Anglistik, parallel dazu nahm sie Schauspielunterricht. Noch während ihres Engagements am  Grips-Theater in Berlin wurde sie mit Literaturverfilmungen von Christine Brückners Romanen „Jauche und Levkojen“ und „Nirgendwo ist Poenichen“ bekannt.  Seither trat sie in mehr als 40 Hauptrollen in Fernsehspielen, -serien und Kinofilmen auf und   arbeitete an der Seite von Rudolf Platte, Heinz Rühmann und Günther Pfitzmann. Fürs Fernsehen schrieb sie  auch selbst Drehbücher, darunter für die Serie  „Forstinspektor Buchholz“ und den „Tatort“. Heute schreibt sie vor allem Jugendbücher.

Mir war klar, dass ich so schnell wie möglich wegmusste. Immer wieder habe ich mir gesagt: Das ist nicht meine Mama! Meine Mama würde so etwas nie tun. Meine Mama hätte mich lieb gehabt. Meine Mama hätte mich nicht geschlagen und gequält und gedemütigt. Der Gedanke, das Kind meiner leiblichen Mutter zu sein, war mein Rettungsanker. Ich wusste, dass mein Vater und meine Mutter sich sehr geliebt hatten. Ich fühlte mich meiner Mutter von ganz klein auf immer unglaublich verbunden.

Ich hatte Erinnerungsstücke an sie: ihren Konfirmationsring und ihre Korallenkette. Und ich besaß noch ein weiteres Foto von ihr, da war sie 30, kurz danach ist sie gestorben. Ich liebte dieses Foto, weil ich mich damals schon in ihm wiedererkannte. Dadurch, dass ich es nicht miterlebt hatte, wie sie gestorben war, blieb ich auf meine eigenen Vorstellungen angewiesen.

Kindliche Vorstellung vom Tod

Ich stellte mir den Tod immer so vor, wie es bei meinem Großonkel gewesen war: Man legte den Toten in einen Sarg, und vorher wurde er zurechtgemacht. Als mein Großonkel im Sterben lag, hörte ich meine Großmutter sagen: „Er fantasiert schon.“ Das Wort Fantasie war für mich positiv konnotiert, und da dachte ich: „Ach wie schön, Onkel Ernst fantasiert.“ Ich wusste, dass er starb, aber wenn er dabei fantasierte, dann ging es ihm sicher gut. Als ich klein war, habe ich gebetet: „Lass mich zusammen mit meiner Oma sterben.“ Ich wollte nicht ohne sie leben. Ich hatte schon meine Mutter verloren, meine Großmutter durfte nicht auch noch weggehen.

Meinen ersten literarischen Erfolg hatte ich in der Grundschule. Es ging darum, ein Märchen zu schreiben, und ich hatte mir die Geschichte von einem Karpfen ausgedacht, der in der Wüste gelandet ist. Die anderen Tiere helfen ihm, wieder dahin zu kommen, wo er hingehört, nämlich ins Meer. Doch das ist weit weg von der Wüste. Meine Lehrerin schrieb mir eine überschwängliche Laudatio ins Heft. Und dann schlug mir meine Stiefmutter das Heft um die Ohren. So eine idiotische Geschichte könne auch nur mir einfallen, erklärte sie.

Gegen den Widerstand der Stiefmutter Abitur gemacht

Danach habe ich erst mal nichts mehr geschrieben. Trotzdem blieb Deutsch mein Lieblingsfach. Meine Deutschlehrerin gab auch den Anstoß dazu, dass ich mit 13 Jahren mit der Schauspielerei anfing. Der WDR suchte Kinder für eine Sendung im Nachmittagsprogramm, die hieß „Wir spielen Theater“. Sie sagte: „Da nehmen Sie doch die kleine Bliefert!“ So ging ich eine Zeit lang nach der Schule ins Studio, und danach war klar: Das wird mein Beruf. Mit 18 Jahren habe ich, gegen den Widerstand meiner Stiefmutter, das Abitur gemacht.

Am Tag darauf bin ich gegangen. Meine Eltern waren gerade in Urlaub. Als sie zurückkamen, war mein Zimmer leer geräumt. Auf einen Zettel hatte ich lediglich meine neue Adresse geschrieben. Weil ich schon während meiner Schulzeit als Statistin in der Oper und im Schauspielhaus Köln gejobbt hatte, fand ich sofort eine Arbeit. Da ich von zu Hause kein Geld bekam, musste ich für meinen Lebensunterhalt selbst aufkommen. So kam ich nach Bonn ans Theater als „Mädchen für alles“. Ich nahm zwar Schauspielunterricht und begann zu studieren, aber alle Ausbildungen beendete ich vorzeitig. Stattdessen machte ich Bühnenbild-, Kostüm-, Regieassistenz und meine erste eigene Regieerfahrung. Und ich spielte! Eine bessere Ausbildung konnte ich nicht bekommen.

Emotionaler Nährwert

1981 kam meine Tochter zur Welt. Sie hat Asthma, wir konnten keine Nacht durchschlafen, die Kleine und ich. So fing ich an zu schreiben. Es entstand mein erstes Jugendbuch „Lügenengel“, weitere Titel folgten. Gerade habe ich ein Film-Treatment geschrieben, da geht es um einen Jungen, dessen Eltern als vermisst gelten. Alle sagen, die Eltern seien tot, doch keiner redet so richtig mit ihm, und diese Unausgesprochenheit bestimmt die Atmosphäre. Der Junge lernt ein Mädchen-Gespenst kennen, das vor über hundert Jahren gestorben ist und nicht weiß, wer es ist. In ihm findet der Junge eine Seelenverwandte. Er hilft ihr herauszufinden, wer ihre Eltern gewesen sind, sie erfährt ihren Namen und findet ihre Identität wieder. Und dann erhalte ich eine E-Mail von der Redaktion mit folgendem Inhalt: „Wo ein Kind herkommt und wer seine Eltern sind, ist doch schnurzegal. Das hat keinerlei emotionalen Nährwert.“

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Was darauf mit mir geschah, muss man wohl als Retraumatisierung bezeichnen. Ich habe zwei Tage lang geheult. Ich konnte gar nicht an mich halten. Warum sind denn wohl die Gesetze für Adoptivkinder geändert worden? Weil es für Kinder ganz wichtig ist zu erfahren, wer ihre Eltern sind! Damit beschäftigt man sich ein Leben lang. Auch in meinem Buch „Lügenengel“ geht es um eine tote Mutter. Die Protagonistin verliert ihre Mutter durch eine tragische Verkettung von Umständen. Als Antagonistin zu der guten Mutter tritt die herzlose Beinahe-Stiefmutter auf den Plan – natürlich ein autobiografisches Motiv. Auch in „Schattenherz“ und „Bitterherz“ ist das Leitmotiv die abwesende Mutter. In meinem Kinderfilm fragt der Junge das Mädchen-Gespenst, wie es ist, wenn man tot ist, und ich lasse es antworten: ! „Tot sein ist nur doof für die, die noch leben.“

Tod und Sterben als Teil meines Lebens

Für mich sind Tod und Sterben von Kindheit an ein Teil meines Lebens. Durch den Tod meiner Mutter, durch die ganzen Witwen und Halbwaisen, die es in meiner Familie gab, bin ich irgendwie an das Sterben gewöhnt. Ich spreche mit meiner Mutter über alles, was sich gerade ergibt. Ich bitte sie um Hilfe bei Entscheidungen. Es hat aber auch Zeiten gegeben, da habe ich ihr ganz starke Vorwürfe gemacht, warum sie mich so alleine, so im Stich gelassen hat. Ich habe ihr Vorhaltungen gemacht, wieso sie mich nicht einfach abgetrieben hat. Ich wüsste es ja heute gar nicht, und sie hätte mit meinem Vater noch ein Jahr mehr Leben gehabt. Eigentümlicherweise erlebe ich meine Mutter jedes Mal ausgesprochen entspannt und bei guter Laune.

Ich sehe ihr lächelndes Gesicht, das ich ja nur von Fotos kenne, ich sehe ihre Lachfältchen und die kaum gebändigten, kruscheligen Haare, die sie mir vererbt hat, und ich fühle mich im Gespräch mit ihr wie ein kleines Kind, das in den Armen seiner Mutter Geborgenheit findet. Ich glaube, meine Mutter ist ein unsichtbarer Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihr – so, als verbinde uns eine Art ewige Nabelschnur. Es gibt Fotos, da liege ich auf dem Wickeltisch, und sie beugt sich über mich und lacht, und dann denke ich: „Bei aller Tragik hat sie sich aber doch auch über mich gefreut.“

Buchtipp

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Der Text von Ulrike Bliefert ist entnommen aus: C. Juliane Vieregge: „Lass uns über den Tod reden“, Ch. Links Verlag, 304 Seiten, 22 Euro

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