Stau-ExperteDen Stau umfahren, wie es das Navi vorschlägt – bringt das was?

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Nichts geht mehr!

Köln – Die letzten Bundesländer starten in die Sommerferien, woanders gehen sie bereits zu Ende. Autofahrer erwartet damit eins der staureichsten Wochenenden der Reisesaison. Experte Michael Schreckenberg erklärt, wie man lange Wartezeiten auf Autobahnen am besten vermeidet und was häufige Spurwechsel bringen.

Herr Schreckenberg, Sie sind ein international bekannter Stauforscher. Daher die wichtigste Frage zuerst: Wie vermeide ich es, in einen Stau zu geraten?

Prof. Dr. Michael Schreckenberg: Wenn man schon unterwegs ist, ist es meistens zu spät. Dann kann man nur noch kleine Dinge tun. Beispielsweise nicht mit zu geringer Geschwindigkeit auf die Autobahn auffahren. Wenn man sich mit niedriger Geschwindigkeit einfädelt, sorgt man bei denjenigen, die dann hinter einem fahren, wieder dafür, dass sie bremsen müssen. Man kann also das Auslösen von Stauwellen aktiv verhindern. Man sollte da kooperativ sein, das ist nur leider nicht gang und gäbe. Und dann sollte man nicht die Lücke zum Vordermann schließen. Damit man nicht selbst auch stehen bleiben muss, wenn das vordere Auto stehen bleibt. Aber wenn Sie das in Deutschland machen, fährt sofort jemand in diese Lücke rein. Das sind dann die aktiven Spurwechsler, die eigentlich überall präsent sind.

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Zur Person

Die Stauforschung gehört zur Physik. Und so ist auch Prof. Dr. Michael Schreckenberg ein Naturwissenschaftler, studierte Theoretische Physik in Köln. Dort beschäftigte er sich mit rechnerisch effizienten Modellen und wandte diese zusammen mit seinem Kollegen Kai Nagel auf den Autobahnverkehr an. Das Nagel-Schreckenberg-Modell war geboren, die mittlerweile meistzitierte wissenschaftliche Arbeit im Bereich Verkehr, wie Schreckenberg stolz erzählt.

Mittlerweile arbeitet Schreckenberg in Duisburg, an der Universität Essen-Duisburg. Dort hat er den einzigen Lehrstuhl für Physik von Transport und Verkehr in Deutschland. Heute forscht er auch an Flugzeug-, Fußgänger- oder Internetverkehr.

Berühmt wurde das Nagel-Schreckenberg-Modell auch Fachfremden, als Oliver Pocher bei einem Prominenten-Special der RTL-Sendung „Wer wird Millionär“ die Millionen-Frage nach dem Gebrauch des Modells richtig beantwortete. „Vor der Sendung hatten wir rund 50 Aufrufe der Wikipedia-Seite zu dem Modell pro Monat, nach der Sendung dann in 48 Stunden 150.000“, erinnert sich Schreckenberg amüsiert.

Bringt es denn etwas, im Stau die Spur zu wechseln?

Nein, das wäre der nächste Tipp: Nicht ständig die Spur wechseln. Das verursacht nur Unruhe im Verkehrsfluss und stört den Verkehr auf der Spur, auf die man wechselt. Zudem denken Autofahrer immer nur nach vorne. Was hinter ihnen passiert, ist ihnen egal. Das heißt, wenn Sie eine Stauwelle auslösen, weil sie zu stark gebremst haben, bekommen Sie das gar nicht mit. Sie selbst stehen aber in einer Stauwelle, weil vor Ihnen jemand war, der das gleiche gemacht hat wie Sie. Und dadurch werden Sie praktisch indirekt für Ihr Wechseln bestraft.

Gefühlt geht es ja auf den anderen Spuren immer schneller voran als auf der eigenen…

Ja, es gibt da einen psychologischen Effekt. Autofahrer denken immer, auf der langsameren Spur zu sein. Dies wurde konkret in einer US-Studie untersucht. Wenn Sie langsam Kolonne fahren, haben Sie Zeit zu beobachten. Autos, die an Ihnen vorbeigefahren sind, prägen sich viel stärker ein als die, die Sie selbst überholt haben und nun hinter Ihnen fahren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Studie ist da auf ein Verhältnis von 2:1 gekommen. Das heißt, Sie haben das Gefühl, doppelt so viele Autos fahren an Ihnen vorbei, wie Sie selbst abgehängt haben. Aber das ist eben nur ein rein psychologischer Effekt und führt zu diesen ständigen unsinnigen Spurwechseln. Das sollte man berücksichtigen und sich nicht dadurch irritieren lassen. Denn, wenn Sie ehrlich sind: Nach einer halben Stunde haben Sie immer noch dieselben Autos um sich herum. Das Einzige, was sich lohnt ist, bei einer Anschlussstelle nicht auf der Spur zu fahren, auf die Autos zufahren. Das kann aber schnell zum gegenteiligen Effekt führen, dem sogenannten Inversionseffekt, dass diese Spur auf einmal relativ leer ist. Man kennt das vom Kolonnenverkehr von LKWs, da möchte keiner dazwischen mitfahren und „gefangen“ sein.

Die Spur sollte man im Stau also nicht unbedingt wechseln. Sollte man denn auf das Navigationsgerät hören, wenn es eine alternative Route vorschlägt?

Am besten bleibt man auf der Autobahn, auch wenn Stau droht. Wenn man den Stau umfährt, hat man vielleicht das Gefühl, das Richtige getan zu haben, weil man ständig in Bewegung ist. Aber die Kapazitäten der Bundes- und Landesstraßen geben das gar nicht her, die sind viel niedriger als auf einer Autobahn, selbst bei Stau. Nur bei einer Vollsperrung, wo nichts mehr geht, sollte man die Autobahn verlassen. Die Leute wissen ja auch im Nachhinein nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Vielleicht sind die, die den Stau umfahren haben, ganz happy, weil sie nur eine Stunde länger gebraucht haben – im Stau wäre es aber nur eine halbe Stunde gewesen. Deswegen muss man da sehr genau kalkulieren. Vor Fahrtantritt sollte man sich auch Alternativen einplanen – gerade dann, wenn es auf der Strecke viele Baustellen gibt. Es gibt aber ein Szenario, bei dem man die Ausweichstrecke nehmen sollte: Nämlich dann, wenn man eine alternative Autobahnstrecke hat.

Sie sagten zu Beginn, wenn man losgefahren sei, sei es eigentlich schon zu spät, einen Stau zu vermeiden. Was kann man denn vor Fahrtbeginn tun?

Genau. Verhindern, dass man selbst im Stau steht, kann man vor allem vor der Fahrt. Wenn man in den Urlaub fährt, ist es immer noch ratsam, nachts zu fahren, wo insbesondere auch die Temperaturen moderat sind. Dafür muss man aber fit sein und auch bei Nacht gut sehen können. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Andererseits sorgt der Stau auf dem Weg in den Urlaub ja auch schon traditionell für ein Gemeinschaftsgefühl – wenn man dann am Abend im Fernsehen den Stau sieht, in dem man selbst stand. Wenn man in den Urlaub fährt und nicht im Stau stand, denkt man, man hat was falsch gemacht. Das ist ja schon fast ein Ritus. Abgesehen davon sollte man auch immer einplanen, im Stau zu stehen. Gerade auf längeren Fahrten. Man sollte genug zum Trinken mitnehmen, die Kinder bespaßen können. Da sollte man Vorkehrungen treffen.

Und im normalen Alltag hilft es natürlich, die Stoßzeiten zu meiden. Wann gibt es denn die meisten Staus?

In einer normalen Woche haben wir Montagmorgen einen kurzen, aber hohen Peak. Das sind nicht nur die Leute, die zur Arbeit fahren, sondern auch solche, die für mehrere Tage zu Tagungen oder anderen externen Tätigkeiten aufbrechen. Das höchste Verkehrsaufkommen haben wir allerdings freitags ab Mittag. Da setzt die Nachmittagsspitze, die man immer hat, früher ein und sie ist auch höher, hält aber nicht so lange an. Schlimmer wird es, wenn zusätzlich Ferienbeginn ist. Dann trifft Feierabendverkehr auf Ferienverkehr.

Wie verändert sich der Verkehr in den Ferien?

Das sieht man ganz deutlich daran, welche Autobahnen besonders ausgelastet sind. Auf einigen Pendlerautobahnen, der A40 beispielsweise, gibt es sogar dann weniger Verkehr, fast zehn Prozent. Auf den langen Fernverkehrsstrecken A1, A2 oder A3 gibt es dafür fünf Prozent mehr Verkehr. Durch Corona haben sich die Statistiken aber merklich verändert.

Und während des Ferienverkehrs ist es auf den Autobahnen am vollsten?

Im Jahresdurchschnitt haben wir das höchste Verkehrsaufkommen im Mai – aber auch sehr gute Wetterbedingungen. Und es sind keine Ferien. Das trifft auf den November auch zu – nur sind dann die Wetterbedingungen nicht so gut. Es regnet, die Straße spiegelt und es liegen rutschige Blätter darauf, vielleicht das erste Eis, die Scheiben sind möglicherweise beschlagen, es wird später hell und früher dunkel. Und da haben wir dann in der Tat das höchste Stauaufkommen.

Und auch das höchste Unfallaufkommen?

Im Oktober und November gibt es besonders viele Unfälle. Häufig sind die Staus aber eher dadurch bedingt, dass die Leute vorsichtiger fahren. Wenn die Seitenscheibe beschlagen ist, wird das Licht stärker gestreut. Der Scheinwerfer eines heranfahrenden Autos erscheint dadurch größer und es wird der Eindruck vermittelt, dass das Auto näher sei. Das ist ein Grund, warum die Leute dann eher zögerlicher abbiegen. Das senkt den Verkehrsfluss zusätzlich.

Was sind die Gründe dafür, dass ein Stau entsteht?

Generell sind rund 60 bis 70 Prozent der Staus auf schiere Überlastung zurückzuführen: Zu viele Fahrzeuge sind auf derselben Strecke zur selben Zeit in dieselbe Richtung unterwegs. Das hat man beim Urlaubsverkehr zum Beispiel. Da ist keine Baustelle, kein Unfall, da sind einfach zu viele Fahrzeuge unterwegs. Der zweite große Teil von etwa 30 bis 40 Prozent kann hälftig Unfällen und Baustellen zugerechnet werden. Gerade Baustellen haben wir ja momentan viele, insbesondere aufgrund der ganzen Brückenarbeiten. Das ist häufig ein massiver Eingriff in die Infrastruktur mit Folgen für den Verkehrsfluss. Und schließlich machen widrige Wetterbedingungen rund zwei Prozent aus. Das kann dann Starkregen, Nebel oder einfach eine tiefstehende Sonne sein.

Die meisten Staus sind also darauf zurückzuführen, dass einfach zu viele Autos unterwegs sind. Doch wie genau wird daraus ein Stau?

Die Entstehung von Überlastungsstaus geschieht immer nach demselben Muster: Zuerst steigt die Dichte an. Das passiert normalerweise an Anschlussstellen, an denen Fahrzeuge zufahren. Oder an Steigungen, wo die Leute bergauf fahren müssen. Da gibt es dann den Elbtunnel-Effekt: In der Mitte des Tunnels geht es plötzlich von abwärts nach aufwärts. Das merken einige Fahrer aber gar nicht, geben daher auch nicht mehr Gas und werden schließlich langsamer. Und da reichen wenige aus, um damit den Verkehr deutlich zu verlangsamen bis hin zum Stau. Die Dichte steigt an Steigungen daher ebenso an wie bei den viel befahrenen Anschlussstellen. Von denen gibt es ja gerade um Köln oder auch im Ruhrgebiet an der A40 viele. Als Ergebnis wird der Verkehr zähfließend mit nur noch 10 bis 30 km/h.

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Und wie kommt der Verkehr dann zum Stehen?

In diesen Bereichen entstehen dann durch Überreaktionen und Unaufmerksamkeiten Stauwellen, wenn einer auch nur mal kurz stehenbleibt und die Fahrzeuge dahinter zwingt, auch kurz stehen zu bleiben. Eine solche Stauwelle fließt mit 12 bis 15 km/h nach hinten weg, also dem fließenden Verkehr entgegen. Aus der Luft kann man das sehr gut beobachten. Und diese Stauwelle kommt einem dann irgendwo entgegen, wo man nicht damit rechnet, dass da ein Stau ist, weil man keine Ursache wahrnehmen kann. Und so entsteht der Eindruck eines „Staus aus dem Nichts.“ Und das ist auch gefährlich. Denn oft kommt nicht nur eine Stauwelle, sondern es folgen mehrere Stauwellen hintereinander. Es passieren tatsächlich viele Unfälle zwischen den Stauwellen. Wenn Fahrer aus einer Stauwelle losfahren, werden sie entspannter und geben Gas. Allerdings fahren sie schon auf die nächste Stauwelle zu. Man sollte die Leute tatsächlich eindringlicher davor warnen, nach einem Stau allzu entspannt wieder Gas zu gehen.

Apropos aufs Gas gehen: Kann man die Zeit, die man durch einen Stau verloren hat, wieder aufholen?

Nicht wirklich, das ist auch ein negativer Nebeneffekt von Navigationsgeräten. Sie zeigen meist eine unrealistische Ankunftszeit an, die nur unter Idealbedingungen zu erreichen ist – also ohne Stau und ohne Pausen. Manchmal haben sie auch neue Baustellen und neue Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht parat. Und wenn man auf der ersten Hälfte einer längeren Strecke langsamer ist als der vom Navi errechnete Schnitt, sagen wir man schafft nur 80km/h anstatt 120 km/h, dann müsste man auf der zweiten Hälfte eine unerreichbare Schnittgeschwindigkeit von 240 km/h fahren. Und wenn man überhaupt versucht, die Uhr auf dem Navi herunterzufahren, geht man unnötige Risiken ein. Obwohl das eben ohnehin kaum zu schaffen ist.

Ist es denn generell sinnvoll, etwas schneller zu fahren, damit man eher am Zielort ankommt?

Was sich letztendlich lohnt, ist das konstante Fahren. Was man nicht machen sollte, und da gibt es einen gewissen Prozentsatz in der Bevölkerung, der das gerne macht, ist dieses ständige Gas geben und wieder bremsen. Am Ende des Tages zählt nur der Geschwindigkeitsschnitt. Man sollte nicht darauf achten, zwischendurch mal möglichst schnell zu fahren, denn es zahlt sich kaum aus. Das ist genau so wie mit den ICEs zwischen Köln und Frankfurt. Die fahren zwischendrin 300 km/h, aber wichtig für die Zeitbilanz sind die ersten und die letzten Kilometer. Und wenn sie da nur 50 km/h fahren, ist der Schnitt hin. Wichtig ist, dass man eine geplante Geschwindigkeit auch wirklich fährt. Und die sollte realistisch sein. Es bringt eben nichts, wenn man auf einem Teilstück mal kurz 200 km/h und riskant fährt. Denn erstens stresst das ziemlich, und zweitens kommt man am Ende des Tages nicht viel eher an.

Sie haben die Corona-Pandemie bereits angesprochen. Inwiefern hat sie den Verkehr in Deutschland verändert?

Es gibt immer noch weniger Verkehr als vor der Pandemie, das merkt man auch. Wobei es gegenläufige Entwicklungen gibt: Zum einen arbeiten viele Menschen aus dem Homeoffice heraus, was zu weniger Verkehr führt. Zum anderen nutzen viele Menschen anstatt der KVB oder der S-Bahn das eigene Auto, was natürlich zu mehr Verkehr auf den Straßen führt. Das wirkt sich aber eher auf den örtlichen Verkehr aus. Teilweise hatten wir zu Beginn der Pandemie, während der ersten Corona-Welle, 70 Prozent weniger Verkehr. Im gesamten Jahr 2020 sind die Staulängen und Staustunden auf der Autobahn laut ADAC um rund 50 Prozent zurückgegangen. Die Gesamtzahl der Staus ist um 30 Prozent zurückgegangen, Corona hat also vor allem die großen Staus erwischt. Wenn man sich das Jahr 2021 anschaut, dann erkennt man, dass sich der Verkehr trotz allem wieder normalisiert, wir befinden uns wieder bei rund 85 Prozent des Niveaus von vor der Pandemie. Da muss man jetzt sehen, wie sich das weiterentwickelt. Im Herbst wird sich dann zeigen, was von den Effekten übrigbleibt. Aber eine Studie aus der Schweiz zeigt beispielhaft, wie dort verkehrstechnisch die Rückkehr zur Normalität stattfindet.

Bestimmte Fahrzeuge waren pandemiebedingt aber auch häufiger unterwegs. Zum Beispiel Lieferanten diverser Online-Händler.

Der Zulieferverkehr ist während der Corona-Pandemie gestiegen. Ich wohne in einer Spielstraße, da kommen jeden Tag Amazon, DHL und Hermes vorbei. Manchmal sogar mehr als einmal am Tag. Das bedeutet natürlich auch ein höheres Verkehrsaufkommen, zumindest in den Städten. Und es gibt jetzt mehr Wohnmobile. Das sind aber zu wenige, um einen merklichen Einfluss auf den Gesamtverkehr haben zu können. Als die Fernbusse aufkamen, gab es auch Stimmen, die sagten, dass jetzt viele Fernbusse für mehr Staus sorgen würden. Aber so viele sind das dann nicht geworden, da ist kein messbarer Effekt.

Sie beschäftigen sich auch mit anderen Transportmitteln – Flugzeugen zum Beispiel. Spürt man da Veränderungen?

Beim Flugverkehr wird es weniger als vor der Pandemie bleiben, vor allem Businessflüge. Viele Unternehmen haben in den vergangenen anderthalb Jahren festgestellt, dass man vieles erledigen kann, ohne physisch vor Ort zu sein. Mit Videokonferenzen spart man bares Geld, mit Homeoffice spart man Bürokapazitäten.

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