Völlig versagt?Eine Rekonstruktion der Warnkette in der Flut-Nacht

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Symbolbild

„Hätten wir früher Bescheid gewusst, wie viel Wasser kommt, hätten wir vieles retten können“, sagte ein Anwohner aus Erftstadt-Blessem zehn Tage nach der Flutkatastrophe. Wie viele andere Betroffene übt er Kritik an der Informationspolitik der zuständigen Behörden im Land und im Rhein-Erft-Kreis. Ähnliche Vorwürfe gibt es auch im Rhein-Sieg-Kreis und im Kreis Euskirchen.

Der Tenor: Wäre früher gewarnt worden, hätten Leben gerettet werden können. Die Staatsanwaltschaft Köln prüft bereits die Aufnahme von Ermittlungen gegen Verantwortliche im Rhein-Erft-Kreis, im Rhein-Sieg-Kreis und im Kreis Euskirchen (die Rundschau berichtete). Eine Rekonstruktion der Warnkette in der Woche der Flut.

Montag, 12. Juli, 7.37 Uhr: Der Deutsche Wetterdienst (DWD) meldet, dass das europäische Hochwassermeldesystem Efas im Zeitraum von mehr als 48 Stunden „erhöhte Signale für Hochwasser an mehreren großen Flüssen im Südwesten und Westen Deutschlands (speziell Rhein und Zuflüsse)“ zeige. Die in etwa gleiche Meldung formulierte der DWD bereits zwei Tage vorher am Samstag. Nun heißt es: Es seien extreme Niederschläge zu erwarten.

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Die Wahrscheinlichkeiten für mehr als 50 Liter Regen pro Quadratmeter Regen in 72 Stunden (bis Donnerstagfrüh) liegen westlich des Rheins über 30 Prozent, punktuell über 60 Prozent. „Bei der Sichtung dieser Daten am Montagmorgen wurde deutlich, dass ungewöhnlich große Niederschlagsmengen im Laufe der Woche zu erwarten sind“, sagt der Sprecher des Landesumweltamtes (Lanuv), Wilhelm Deitermann.

Montag, 12. Juli, 10.30 Uhr: Der DWD warnt nun auch über die DWD-Warnwetter-App.

Montag, 12. Juli, 10.55 Uhr: Auf Basis der Warnung des DWD aktiviert das Lanuv den internen Hochwasserinformationsdienst, kontaktiert das Umweltministerium erstmals und informiert es über die aktuelle Sachlage.

13. Juli, 7.37 Uhr: DWD warnt vor starkem Hochwasser

Dienstag, 13. Juli, 7.37 Uhr: Der DWD informiert über erhöhte Signale für das Überschreiten eines fünfjährigen Hochwassers an mehreren großen Flüssen im Südwesten und Westen Deutschlands . „Oftmals sollen auch Schwellen für ein zehn- bis 20-jähriges Hochwasser erreicht werden, wobei anhand der Prognosen vereinzelt selbst ein 50-jähriges Hochwasser nicht komplett auszuschließen ist“, heißt es im Bericht des DWD.

Dienstag, 13. Juli, 14.55 Uhr:Das Lanuv veröffentlicht den ersten hydrologischen Lagebericht. Darin heißt es unter anderem: Es sei wahrscheinlich, dass in den Einzugsgebieten von Rur, Erft und Sieg Informationsstufen überschritten werden.

Die Informationsstufen, auf denen die Warnungen des Lanuv aufbauen, sind bestimmte Pegelwerte, die von der Bezirksregierung erarbeitet und dem Lanuv zugeliefert wurden (siehe Infografik). In den folgenden Tagen wird jeweils in der Zeit zwischen 8.30 und 10 Uhr ein aktueller hydrologischer Lagebericht veröffentlicht.

Lageberichte vom Umweltlandesamt gehen an mehrere Behörden

Adressaten der Lageberichte sind laut Lanuv unter anderem die Bezirksregierungen als Vollzugsbehörden des Hochwassermeldedienstes und das NRW-Umweltministerium als Oberste Wasserbehörde. Ergänzend dazu werden die Lageberichte in das bundesweite Länderhochwasserportal eingestellt. Darauf greifen die DWD-Warnwetter- und die NINA-App zu und geben lokale Warnungen als Push-Meldung an die Nutzer weiter. „Die Bezirksregierungen erhalten zudem automatisch über die Pegelmessungen einen direkten Hinweis, sobald Informationsstufen überschritten werden“, erklärt das Lanuv.

Das Lanuv hat laut eigener Aussage also Daten aufgenommen, bewertet und die Informationen weitergeleitet. In die operative Katastrophenbewältigung greift es nicht ein. Dafür sind laut Lanuv die Bezirksregierungen sowie die Kreise und kreisfreien Städte zuständig. „Hier gilt in NRW das Subsidiaritätsprinzip, um möglichst nah am Geschehen die Einsatzkräfte zur Verfügung zu haben und ebenso nah am Geschehen auch individuelle Entscheidungen treffen zu können“, sagt Deitermann. Für den Kreis Euskirchen, den Rhein-Erft-Kreis und den Rhein-Sieg-Kreis ist die Bezirksregierung Köln zuständig.

Konnten Kreise Pegelstände einsehen?

Pegelstände

Die Pegelstände und die jeweils dazugehörigen Informationsstufen lassen sich öffentlich einsehen – auch rückblickend. Ob die Kreise die Pegelstände eingesehen haben, ist unklar. Möglicherweise hätte es in einigen Fällen helfen können, die Situation mit diesem Werkzeug zu bewerten, auch mit dem Blick auf die Pegelstände flussaufwärts der betroffenen Gebiete. Ob betroffene Kreise und Kommunen die Informationen nutzen konnten, ist noch unklar.

Der Landrat des Kreises Euskirchen, Markus Ramers, sagte, die Pegel seien ein Instrument, das die Feuerwehren nutzen. Dies sei aber lediglich eine Momentaufnahme. Eine Prognose , wie man sie etwa vom Rhein oder anderen großen Flüssen kenne, gebe es für Erft oder Urft nicht.

Der Pegel der Urft überschritt in Kall am Mittwoch, 14. Juli, gegen 14.30 Uhr den Informationswert 1. Sieben Kilometer weiter nordöstlich und flussabwärts in Gemünd überschritt der Pegel erst zweieinhalb Stunden später die Informationsstufe 1. Auch die Informationsstufen 2 und 3 trafen in Gemünd jeweils etwa zwei Stunden später ein als flussaufwärts in Kall. Der Pegel aus Kall hätte also erahnen lassen können, was den Menschen wenige Stunden später in Gemünd drohen wird.

Dass diese Sichtweise nicht immer so linear funktioniert, zeigt ein anderes Beispiel. Der Pegel der Erft überschritt in Arloff die Informationsstufe 1 gegen 16 Uhr. Schon zwei Stunden früher war diese Marke über 20 Kilometer flussabwärts in Bliesheim erreicht. Die Stufe 2 traf etwa zeitgleich gegen 17 Uhr ein. In Arloff dauerte es eine weitere halbe Stunde bis zur Stufe 3, in Bliesheim dagegen rund anderthalb Stunden. (sim)

Hier finden Sie die Pegelstände: www.luadb.it.nrw.de

Der Pegel der Urft überschritt in Kall am Mittwoch, 14. Juli, gegen 14.30 Uhr den Informationswert 1. Sieben Kilometer weiter nordöstlich und flussabwärts in Gemünd überschritt der Pegel erst zweieinhalb Stunden später die Informationsstufe 1. Auch die Informationsstufen 2 und 3 trafen in Gemünd jeweils etwa zwei Stunden später ein als flussaufwärts in Kall. Der Pegel aus Kall hätte also erahnen lassen können, was den Menschen wenige Stunden später in Gemünd drohen wird.

Dass diese Sichtweise nicht immer so linear funktioniert, zeigt ein anderes Beispiel. Der Pegel der Erft überschritt in Arloff die Informationsstufe 1 gegen 16 Uhr. Schon zwei Stunden früher war diese Marke über 20 Kilometer flussabwärts in Bliesheim erreicht. Die Stufe 2 traf etwa zeitgleich gegen 17 Uhr ein. In Arloff dauerte es eine weitere halbe Stunde bis zur Stufe 3, in Bliesheim dagegen rund anderthalb Stunden. (sim)

Hier finden Sie die Pegelstände: www.luadb.it.nrw.de

Die Sprecherin der Bezirksregierung Köln, Vanessa Nolte, teilte auf Anfrage mit, die Bezirksregierung habe den Hochwassermeldedienst aktiviert, nachdem der hydrologische Lagebericht am Dienstag, 13. Juli, eingegangen war.

Der Hochwassermeldedienst sei rund um die Uhr in Bereitschaft gewesen. „Ab da erfolgten Meldungen je nach Lagebild und Entwicklung der Pegelstände an die Leitstellen entsprechend der Meldeordnung“, so Nolte.

Im Rhein-Erft-Kreis und im Rhein-Sieg-Kreis überschritten die Pegel am Dienstag noch keine der Informationsstufen. Der Kreis Euskirchen erklärte auf Anfrage der Redaktion, er sei am Dienstag von der Bezirksregierung über die Warnung auf Landesebene informiert worden. Darin sei aber keine Konkretisierung der Gebiete oder des drohenden Ereignisses enthalten gewesen. Bereits zu Wochenbeginn und auch am Mittwoch habe der Kreis über die Katwarn- und Nina-App gewarnt.

Dienstag, 13. Juli, 21.53 Uhr: Die Bezirksregierung versendet laut eigener Aussage die erste Warnmeldung an die Leitstelle des Kreises Heinsberg. Dort überschreitet der Fluss Wurm in Randerath die Informationsstufe 1. „Bei der Überschreitung der Informationsstufe 1 wird die zuständige Katastrophenleitstelle telefonisch und anschließend per Mail über die Überschreitung informiert. Bei Überschreitung der Informationsstufen 2 und 3 erfolgt jeweils eine Folgemeldung telefonisch und per Mail“, erklärt die Bezirksregierung.

Die Meldungen enthalten Informationen über die jeweiligen drei Informationsstufen, den aktuellen Wasserstand und eine Tendenz, wie sich der Pegel verändert. Weil die Telefonanschlüsse der Kreisleitstellen ab einem gewissen Zeitpunkt dauerhaft besetzt waren, habe die Bezirksregierung später auf die telefonische Meldung verzichtet und „zügig“ die Informationen per Mail verschickt.

Hochwasser in NRW: Lanuv versendet außerplanmäßig weiteren Lagebericht

Mittwoch, 14. Juli, 15.30 Uhr: Das Lanuv versendet außerplanmäßig einen zweiten Hochwasser-Lagebericht für diesen Tag. Erstmalig wird formuliert, dass sich im Einzugsgebiet der Erft die Wasserstände der Meldepegel bei steigender Tendenz bereits im Bereich des Informationswertes 2 befinden. Der Kreis Euskirchen erklärte, er habe fortlaufend Infos der Bezirksregierung über aktuelle Pegelstände und deren Tendenz erhalten, aber keine Prognosen. Es habe darin auch keine konkreten Hinweise oder Handlungsempfehlungen gegeben.

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Der Rhein-Erft-Kreis äußerte sich auf Anfrage nicht zu Details rund um die Flut-Warnmeldungen. Erst müsse die „sehr komplexe und aufwändige“ Dokumentation des Einsatzes abgeschlossen sein, sagte Sprecher Marco Johnen. Auch der Rhein-Sieg-Kreis gab angesichts der gestellten Strafanzeige keine Auskunft.

Mittwoch, 14. Juli, 21.18 Uhr: Der Kreis Euskirchen warnt laut eigener Aussage per App vor akuter Lebensgefahr. In Bad Münstereifel, Schleiden und Weilerswist seien die Menschen mit Sirenen gewarnt worden.

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