Abo

„Warten auf Hilfen“Imad Rahi aus Alfter berichtet über Folgen der Explosion in Beirut

Lesezeit 5 Minuten
Rahi_Zerstoerung_Beirut_01

Das zerstörte Mehrparteienhaus, in dem Imad Rahis Tante Jacqueline eine Wohnung gehört.

Alfter – „Das Leiden und die Perspektivlosigkeit sind groß, viele bangen noch immer ums Überleben, manche spielen mit dem Gedanken auszuwandern, vor allem sind die Menschen enttäuscht von der Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft.“ Deutliche Worte findet Imad Rahi, wenn er über die Lage in Beirut ein halbes Jahr nach der Explosionskatastrophe in der libanesischen Hauptstadt spricht. Der 51-jährige Friseurmeister aus Witterschlick kam Mitte der 1980er Jahre ins Rheinland (siehe ,Zur Person’). Seine Familie, darunter vier Brüder, leben noch heute in dem von Krisen gebeutelten Land am Mittelmeer.

Als es am 4. August zu der gewaltigen Detonation im Beiruter Hafen kam, befand sich Rahis Cousine Simone nur eine Parallelstraße vom Katastrophenort entfernt. Sie war gerade mit ihrem weißen Toyota-Geländewagen auf dem Heimweg. Wie durch ein Wunder überlebte die 52-Jährige und konnte sich aus dem zerstörten Autowrack befreien, das durch die Druckwellen buchstäblich durch die Luft gewirbelt worden war: „Hätte sie in einem Kleinwagen gesessen, wäre sie heute vermutlich tot“, meint Rahi.

Fassade des Hauses der Tante komplett zerstört

Wie gewaltig die Sprengwirkung war, machen die schweren Zerstörungen an den Häusern seines Bruders Toni (62) und seiner 76-jährigen Tante Jacqueline Milan deutlich. Sie besitzt eine Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus, dessen Fassade komplett zerstört worden ist – und das Haus befindet sich etwa acht Kilometer entfernt vom Katastrophenort. Die Tante kam mit leichten Verletzungen davon.

In einem gut 15 Kilometer entfernten Beiruter Stadtteil lebt Imad Rahis Bruder mit seiner Familie in einem Haus. Die Druckwelle der Explosion war so gewaltig, dass sie selbst weit entfernt für gewaltige Zerstörungen sorgte. Fensterscheiben zerbarsten, die Holzvertäfelung der Wohnzimmerdecke stürzte zu Boden: „Es war reiner Zufall, dass mein Bruder zu dem Zeitpunkt gerade in die Küche gegangen war, um dort das Abendessen vorzubereiten.“ Große Sorgen machte sich Imad Rahis Bruder um seinen Sohn, der unweit des Hafens arbeitete, dem aber zum Glück nichts passiert war. Das erfuhr die Familie erst viel später: „Niemand konnte telefonieren, die Netze waren überlastet“, schildert Rahi.

Rahi dachte zunächst an einen Terroranschlag

Als ihn per WhatsApp die ersten Nachrichten und Fotos wenige Minuten nach dem Unglück erreichten, dachte Imad Rahi zunächst an einen Terroranschlag oder einen Angriff israelischer Truppen gegen die Terrormiliz Hisbollah. Rahi erreichten grausame, nur schwer zu ertragene Fotos, auf denen leblose blutüberströmte Körper oder abgerissene Gliedmaßen zu sehen sind.

Mehr Infos

Zur Person

Imad Rahi stammt aus dem Libanon und kam bereits mit 15 Jahren nach Deutschland, wo seine ältere Schwester in Bonn studierte. Rahi stammt aus einer christlichen Familie. Seine Eltern sahen in Deutschland bessere Zukunftschancen für ihren Sohn, der während des religiös motivierten Bürgerkriegs (1975 bis 1990) bereits als Jugendlicher zum Soldat ausgebildet worden war.

In Bad Godesberg besuchte Rahi eine Sprachenschule, sein Abitur machte er in einem Internat in Bad Münstereifel, wo er bereits sein Talent und seine Leidenschaft fürs Haareschneiden entdeckte. Er ließ sich zum Friseur ausbilden, legte die Meisterprüfung ab und ist seit 2002 mit seinem Salon in Oedekoven selbstständig. Mit seiner Familie lebt er in Witterschlick. (fes)

„Verzweifelt wie nie zuvor“

Bei der gewaltigen Explosion im Hafen Beiruts am 4. August um 18.08 Uhr Ortszeit (17.08 Uhr MESZ) wurde die gesamte Stadt getroffen. Ursache war ein Feuer in einem Lagerraum in dem sich Feuerwerkskörper befanden, deren Explosion das daneben befindliche Lager mit rund 2800 Tonnen Ammoniumnitrat zur Explosion brachte.

Durch die Detonation wurden nicht nur weite Teile des Hafens zerstört, auch viele Stadtteile wurden in Mitleidenschaft gezogen. Libanesischen Regierungsangaben zufolge kamen mindestens 190 Menschen ums Leben und es gab mehr als 6500 Verletzte. Die internationale Entwicklungshilfeorganisation World Vision Deutschland beschreibt die Lage vieler Familien im Libanon sechs Monate nach der Explosion als „verzweifelt wie nie zuvor.“ Den unmittelbar von der Explosion betroffenen Menschen konnte nach Aussage von World Vision zwar relativ schnell und effektiv geholfen werden, doch spiegele sich in zahlreichen Ruinen der Hauptstadt die äußerst kritische Lage des Landes wider. Mehr als die Hälfte der rund sechs Millionen Einwohner des Libanons, von denen gut zwei Millionen in der Hauptstadt wohnen, lebe unterhalb der Armutsgrenze.

Zudem kämpfen viele ums Überleben, weil der Libanon von einem der härtesten Corona-Lockdowns der Welt betroffen sei. Zudem seien mehr als eine halbe Million Kinder von Zwangsarbeit, Kinderheirat und psychischen Problemen bedroht. (fes)

Sechs Monate danach ist die Situation immer noch unüberschaubar, gefährlich und es kommt keine nennenswerte Hilfe bei den Opfern an. Viele seien immer noch obdachlos, gesundheitlich schlecht versorgt. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, die sich auch im Libanon weiter ausbreitet. Seit drei Monaten ist das Land im Lockdown.

Rahi: „Lebensmittel und Medikamente sind knapp, aber auch Baumaterialien, um die schwer beschädigten Häuser und Wohnungen wieder herzurichten.“ Auch das Geld sei knapp. „Jeder darf pro Woche nur eine kleine Summe von seinem Konto abheben, damit kommt man nicht weit. Die Wohnung meiner Tante ist immer noch unbewohnbar und meinem Bruder fehlt es mittlerweile an Kraft und Energie“, so Rahi, der die Regierung als handlungsunfähig und korrupt bezeichnet.

Hilfsgelder kommen nicht an

Viele Hilfsgelder kämen nicht dort an, wo sie benötigt werden, sondern blieben bei den Mächtigen: „Daher warten alle vergeblich auf Hilfen, auch die zugesagten staatlichen Mittel kommen nicht an. Es ist ein trauriger Zustand.“ Menschen, die Gelder für die notleidenden Libanesen spenden möchten, sollten dies Rahi zufolge ausschließlich über Kirchen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) tun.

Trotz der widrigen Verhältnisse spielt niemand von Rahis Verwandten mit dem Gedanken auszuwandern oder aus dem Libanon zu fliehen. Auch Rahis Neffe möchte bleiben: „Für ihn ist es vor allem eine schlimme Vorstellung, in einem Flüchtlingsheim leben zu müssen.“

Rundschau abonnieren