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Gedenkfeier in AlfterEin Kieselstein für jedes tote Kind

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Mal mit dem Namen versehen, mal mit einem Schmetterling bemalt lagen die Erinnerungssteine an die getöteten Säuglinge auf rotem Samt.

Mal mit dem Namen versehen, mal mit einem Schmetterling bemalt lagen die Erinnerungssteine an die getöteten Säuglinge auf rotem Samt.

Alfter – Wie stumme Zeugen lagen sie auf einem Tisch mit einer schlichten weißen Decke, die 19 lackierten Kieselsteine. 14 von ihnen waren mit einem Namen versehen, fünf mit Engelsflügeln oder Schmetterlingen bemalt. Die Steine erinnerten an jene Säuglinge, die 1944/1945 in der Ausländerkinder-Pflegestätte im Landgraben in Alfter ums Leben gekommen waren.

Donnerstagnachmittag gedachten Bürgermeister Rolf Schumacher (CDU) und Thomas Klaus (SPD) in seiner Funktion als Vorsitzender der im März gegründeten Arbeitsgruppe „Zwangsarbeit/Ausländerkinderpflegestätte“ in Oedekoven gemeinsam mit den Ratsfraktionsvorsitzenden mit einem Trauerakt, gemeinsamer Kranzniederlegung und einer Schweigeminute der gestorbenen Säuglinge.

Erinnerung

Die Namen der verstorbenen Pflegekinder: Edmund Bogdanowa, Alexander Hontar/Contar, Michael Leoschik, Jurik Jawlowskaja, Halina Konikowa, Thadäus Masurkewitsch, Viktor Morkunow, Johann Plachina, Wladislaus Polosowa, Anneliese Saruba, Marija Sinjuk, Rolf-Dieter Trizipanzek, Viktoria Tschupwina, Peter Turulina. (fes)

Gemeindearchivar Jens Löffler hatte, angeregt durch einen Bürgerantrag der Studentin Lynn Busch, zuvor eine Dokumentation zur Geschichte dieser Pflegestätte erarbeitet und veröffentlicht. In dieser Einrichtung waren demnach vornehmlich Frauen aus Osteuropa, die sich im Bonner Raum aufgehalten hatten, untergebracht. Sie wurden von den Nazis zur Arbeit auf Höfen oder Betrieben in Alfter und Umgebung gezwungen. Schwangere Zwangsarbeiterinnen waren den Nazis jedoch sowohl aus rassenideologischer als auch aus ökonomischer Sicht „ein Dorn im Auge“, wie Archivar Jens Löffler schreibt. Die „Aufrechterhaltung der Produktion“ galt als Hauptziel. Die frisch entbundenen Kinder der Frauen wurden in den „Pflegestätten“ unter übelsten Bedingungen notdürftig verwahrt und starben meist an Mangelernährung, Unterkühlung oder Krankheiten. Schätzungen zufolge soll es unter den Arbeiterinnen rund 40 000 Schwangerschaften gegeben haben.

Schumacher zufolge sei der Begriff „Kinderpflegestätte“ daher auch eine zynische Bezeichnung für einen Ort, an dem schwerste Verbrechen gegenüber Kindern verübt worden waren: „Deswegen ist es von großer Bedeutung, dass wir heute konkret an die verstorbenen Kinder erinnern und sie – soweit bekannt – beim Namen nennen. Denn es ist unsere Aufgabe, die Verstorbenen und das große Unrecht, welches ihnen angetan worden ist, nichts ins Vergessen geraten zu lassen“, mahnte er in seiner Traueransprache. So gehöre es zur „grausamen Wahrheit“, dass auch auf Alfterer Gemeindegebiet Männer, Frauen und Kinder in die verschieden Orte verschleppt, zur Arbeit gezwungen und teils unmenschlich behandelt worden seien. Schumacher mahnte, die Gräueltaten nicht zu vergessen: „Für mich ist der Holocaust ein wesentlicher Teil deutscher Geschichte, an dem ich schwer trage und den viele nicht mehr wahrhaben wollen. Daher möchte ich betonen, dass es bei dieser Erinnerung nicht um Schuld der heute Lebenden geht, die zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht gelebt haben. Es geht vielmehr um unsere gemeinsame, kollektive Verantwortung.“

„Wie viele Alfterer haben von den Morden gewusst? Wie viele Alfterer waren an den Verbrechen beteiligt? Wir werden es nie erfahren“, betonte Thomas Klaus in seiner Trauerrede und er erinnerte daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung die begangenen Verbrechen nicht mehr wahrhaben wollte: „Es waren lange Taten ohne Täter. Zack, mit der ,Stunde Null’ war 1945 alles vergessen. Aus heutiger Sicht waren es nicht nur Adolf Hitler oder die SS in den Konzentrationslagern, es waren auch unsere Urgroßväter, Großväter, Väter, auch Mütter in geringerem Umfang, die gemordet haben.“ Besonders erschütternd sei es, so ortsnah mit damaligen Verbrechen konfrontiert zu werden und auch noch die Namen der Babys zu kennen, die durch Unterlassen umgebracht worden seien, und zu wissen, dass die Täter nach 1945 ein ganz normales Leben führen konnten. „Sich vorzustellen, wie erbärmlich die Säuglinge im Landgraben langsam sterben mussten, wie miserabel ihre Lebens- oder wohl besser ihre Todesbedingungen waren, weil deren Leben nicht interessiert hat und die Aufrechterhaltung der Produktion wichtiger war, das ist für uns heute noch mehr als bitter.“

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Um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten, ist ein Online-Vortrag zu den Recherchen mit Jens Löffler über die Volkshochschule Bornheim/Alfter geplant. Ein Termin wird noch bekanntgegeben. Sofern coronabedingt möglich, soll es Präsenzangebote geben, um die Dokumentation öffentlich vorzustellen etwa in Zusammenarbeit mit dem Förderverein Haus der Alfterer Geschichte.

Wie Gemeindesprecherin Maryla Günther erklärte, wird der Geschichts- und Altertumsverein für Siegburg und den Rhein-Sieg-Kreis die Dokumentation Löfflers in seinen Heimatblättern für den Rhein-Sieg-Kreis veröffentlichen (Ausgabe 2021). Zudem nimmt das Online-Portal des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit (https://www.ns-zwangsarbeit.de/recherche/digitale-erinnerung/) die Forschungsergebnisse auf. Außerdem hat die Gemeinde mit den Arolsen Archives bereits eine Vereinbarung für eine kostenlose Indexierung der Kartei mit den Meldedaten der in Alfter untergebrachten Zwangsarbeiter getroffen. Das Dokumentationszentrum im nordhessischen Bad Arolsen sammelt Daten über die Opfer und Überlebenden des Holocausts, um deren Schicksale zu erklären, über diese zu informieren und sie zu archivieren.

Gesucht werden Zeitzeugen, die über die Zustände der Pflegestätte berichten können. Sie können sich an Archivar Jens Löffler per Telefon (0228) 64 84 139 (nur montags) oder per E-Mail an archiv@alfter.de wenden. Die Dokumentation steht zum Download auf der Homepage der Gemeinde bereit.

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