GeschichteWie Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Alfter litten – und starben

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Meldekartei Alfter

Die Meldekartei Alfter

Alfter – Sie könnten heute 76 oder 77 Jahre alt sein, durften aber nur wenige Wochen oder Monate leben. Sie litten an Unterernährung, Keuchhusten oder Darminfektionen. Ihre Namen waren Michael, Halina, Wladislaus, Anneliese oder Thadäus. Geboren und verstorben sind sie alle zwischen Januar 1944 und März 1945. Ihr kurzes Leben verbrachten diese Babys in der sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätte“ in Alfter.

Der Alfterer Gemeindearchivar Jens Löffler hat die Geschichte dieser Pflegestätte und der Zwangsarbeit auf dem heutigen Gebiet der Gemeinde Alfter mit Blick auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufgearbeitet und in einer knapp 30-seitigen Publikation zusammengefasst. Den Impuls, diese Forschung aufzunehmen, gab im vergangenen Sommer ein Bürgerantrag. Löfflers Rechercheergebnisse können nun kostenlos von der Seite der Gemeinde heruntergeladen werden. Gemeinsam mit Bürgermeister Rolf Schumacher (CDU) stellte Löffler seine Untersuchung vor.

Schwangere „ein Dorn im Auge“

Schwangere Zwangsarbeiterinnen waren den Nationalsozialisten sowohl aus ökonomischer als auch rassenideologischer Sicht „ein Dorn im Auge“, schreibt Jens Löffler, denn die „Aufrechterhaltung der Produktion“ galt den Machthabern damals als Hauptziel. Doch „trotz aller Anstrengungen war es den Nazis nicht möglich, Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen zu unterbinden“, so Löffler. Schätzungen gingen von 40 000 Schwangerschaften im gesamten damaligen Reichsgebiet aus, wobei einige Frauen nach Ausführungen des Archivars bereits schwanger verschleppt worden waren. Zunächst hätten die Nazis schwangere Frauen in ihre Heimatländer abgeschoben.

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Als jedoch die Schwangerschaften unter ihnen stark anstiegen, hätten die Nazis zunehmend Entbindungs- und Kinderanstalten errichten lassen. Auch Abtreibungen unter Polinnen und den sogenannten Ostarbeiterinnen wurden vom Regime gefördert und nicht mehr unter Strafe gestellt. Die Heime erhielten bewusst die hochtrabende Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätten“, in den Dienststellen sprach man hingegen schlicht von „Aufzuchtsräumen für Bastarde“.

In Kürze

590 Ausländer waren gemäß der Alfterer Meldekartei zur Zeit des Nazi-Regimes im Gemeindegebiet zur Arbeit gezwungen. Der größte Teil kam aus Osteuropa. Laut Gemeinde Alfter waren damals etwa 80 bis 90 Prozent der Ausländer in Deutschland betroffen. Die meisten waren direkt bei ihren „Arbeitgebern“ untergebracht, also bei Landwirten und Betrieben, aber auch in verschiedenen Lagern. Acht Lager zwischen Witterschlick und Alfter-Ort sind bekannt.

Jens Löffler ist gebürtiger Siegburger, studierte an der Universität Bonn Geschichte, interessierte sich immer schon für das Archivwesen und arbeitete zuletzt drei Jahre lang als Wissenschaftlicher Volontär im Wirtschaftsarchiv der Hirmer-Unternehmensgruppe in München, bevor er Anfang 2017 das Archiv für Bornheim und Alfter übernahm. (fes) 

Für Alfter ist laut Löffler die Existenz einer solchen Einrichtung seit Mai 1944 belegt. Die Literatur berichtet seit 1990 darüber. Eine eigene Untersuchung hierzu gab es bislang nicht: „Dafür aber viele offene Fragen“, so Löffler. Ende 2019 wurde eine 863 Karteikarten umfassende Ausländermeldekartei an das

Gemeindearchiv übergeben, die sich zuvor im Bonner Stadtarchiv befunden hatte und als zentrale Quellengrundlage für die nun vorliegende Publikation diente.

Die Pflegestätte soll Quellen und Zeitzeugen zufolge am „Landgraben 112“ in Alfter-Ort gestanden haben, der Adresse des Ortsbauernführers Johann Hennes. Mutmaßlicher Träger der Pflegestätte war die Kreisbauernschaft Bonn, die Organisation vor Ort habe jedoch in den Händen des Ortsbauernführers gelegen: „Es muss davon ausgegangen werden, dass er über die Zustände in der Einrichtung genau Bescheid wusste und nichts tat, um die Lage der Kinder zu verbessern und das Sterben zu beenden“, heißt es in den Ausführungen Löfflers.

Löffler und Schumacher war es wichtig, möglichst viele Opfer dieser Pflegestätte namentlich zu identifizieren, um ihnen ein angemessenes Gedenken zu ermöglichen. Hierfür wurden unter anderem Sterbeurkunden beim Stadtarchiv Bonn ausgewertet. Die vorliegenden Meldekarten zeigten, dass die Arbeiterinnen aus dem gesamten damaligen Landkreis Bonn gezwungen waren, ihre Kinder in die Alfterer Pflegestätte abzugeben. Von 19 verstorbenen Säuglingen konnten 14 namentlich identifiziert werden.

In einem überlieferten Schreiben vom November 1944 berichtete ein Amtsarzt von den katastrophalen Zuständen in Alfter, von Kindern, die „zugrunde gegangen“ und an Unterernährung und aufgrund katastrophaler hygienischer Zustände verstorben seien, regelmäßig griffen ansteckende Erkrankungen um sich. Zudem fehlte es nicht nur an Kleidung, Windeln, Bettwäsche und Handtüchern sondern auch an Stroh für die Betten. Die Räume waren oft unterkühlt, die Wasserversorgung zeitweise unterbrochen.

Der Mediziner berichtete auch darüber, dass den Müttern und Kindern nicht nur viel zu wenig Lebensmittel zugeteilt worden seien, sondern auch Nahrungsmittel, die für die Säuglingsernährung völlig ungenügend waren.

Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Löffler spricht von einer Art Zwischenergebnis. In der kommenden Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses, am Donnerstag, 25. Februar, ab 17 Uhr, soll das Thema im Alfterer Rathaus in Oedekoven im Rahmen des Bürgerantrags weiter diskutiert werden. Schumacher und Löffler wollen dabei den weiteren Dialog mit der Bevölkerung suchen. Beide wünschen sich, wie sie der Rundschau erklärten, dass sich Zeitzeugen melden, die vielleicht selber als Zwangsarbeiter gearbeitet haben, oder aber über die räumliche Situation damals näher Auskunft geben können. Vermutlich habe es damals eine zweigeschossige Baracke gegeben, in der die Säuglinge aufgenommen wurden. Vielleicht, so hoffen Archivar und Bürgermeister, existieren noch Fotos von diesem Bau. Eine Präsentation der Forschung in Zusammenarbeit mit dem Haus der Alfterer Geschichte sei beabsichtigt. Wie genau diese Präsentation aussehen soll, gelte es noch zu besprechen. Auch ein Mahnmal, das der Opfer gedenkt, ist laut Schumacher möglich: „Uns ist es wichtig, dieses dunkle Kapitel in der Gemeinde Alfter nicht zu verschweigen, aber auch klar die Namen der Täter und der Opfer zu benennen. Dies sind wir den Opfern schuldig.“

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