Psychologin aus Alfter zu Corona„Wir müssen Freiheit wieder lernen“

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Zurück zur Normalität, das ist offenbar gar nicht so einfach. Kurz im Biergarten einkehren gehört auch dazu. 

Zurück zur Normalität, das ist offenbar gar nicht so einfach. Kurz im Biergarten einkehren gehört auch dazu. 

Alfter – Wieder ohne Termin in ein Geschäft gehen, mit Freunden in den Biergarten, bald wieder ins Kino –   wie wirkt die neue Freiheit auch auf  Menschen im Rhein-Sieg-Kreis? Dazu befragte Jacqueline Rasch die Psychologische Psychotherapeutin Dagmar Meyer-Anuth aus Alfter. 

Niedrige Corona-Inzidenzwerte erlauben auch im Rhein-Sieg-Kreis immer mehr Freiheiten. Teilen Sie den Eindruck, dass viele Menschen aber noch sehr zurückhaltend sind, zum Beispiel wenn es um Restaurantbesuche, die Organisation von Festveranstaltungen oder Ähnlichem geht?

Dagmar Meyer-Anuth: (Foto) So pauschal kann ich das nicht teilen. Wenn man schaut, wie viele Menschen jetzt einen Urlaub planen, bei gutem Wetter rausgehen oder sich wieder mit Freunden treffen, dann habe ich eher den Eindruck, als ob viele aufatmen und froh sind, ihre Grundrechte zu großen Teilen wieder zurückerlangt zu haben. Viele bleiben allerdings nach meiner Beobachtung dann eher vorsichtig, wenn sie befürchten, auf größere Menschenansammlungen zu treffen, so dass Abstand halten schwierig wird.

Warum?

Wir waren über ein Jahr mit öffentlicher Kommunikation konfrontiert, die sich auf allen Ebenen überwiegend eines Katastrophenvokabulars bediente. Das hat neben der Bedrohung durch das Virus die Ängste der Menschen stark befördert. Diese lassen sich nicht von heute auf morgen so ohne Weiteres abbauen. Daneben bestand die Notwendigkeit, die weiteren Entwicklungen abwarten zu müssen. Abwarten und erst einmal beobachten ist so für viele eine Strategie in der Pandemie geworden, die über eine lange Zeit gut geübt werden konnte.

Gibt es noch andere Gründe?

Zusätzlich gibt es bei vielen Unsicherheiten, was überhaupt jetzt wo wie gilt. Das bezieht sich nicht nur auf die einzuhaltenden Regeln, sondern auch auf Informationen, die man nicht hat. Zum Beispiel wissen viele, mit denen ich spreche nicht, nicht, ob man nach doppelter Impfung das Virus noch weitergeben kann oder nicht. Daraus entsteht die Frage, ob man nach zurückerlangten Grundrechten diese ohne Risiko ausüben kann.

Müssen wir nach den Lockdowns Freiheit wieder lernen?

Ja. Es gibt in der Psychologie ein sehr gut untersuchtes Phänomen: die erlernte Hilflosigkeit. Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum die Erfahrung machen, Bedingungen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, ohne die Möglichkeit zu haben, diese zu verändern, verlieren sie unbewusst an Überzeugung, das jemals wieder zu können. Auch wenn die misslichen Bedingungen gar nicht mehr existieren, unternehmen sie nicht so ohne Weiteres einen Versuch, ihren Alltag wieder selbst zu bestimmen. Ich habe von einigen gehört: ,Ach so schlecht war das Zuhausebleiben doch gar nicht. Jetzt muss ich wieder Leute treffen.’ Nach dieser doch recht langen Zeit haben es sich die Menschen auch irgendwie im Dauerlockdown eingerichtet.

Können Sie das erläutern?

Erlernte Hilflosigkeit äußert sich auch im verloren gegangenen Vertrauen, dass die Situation beherrschbar bleiben wird: Wenn ich meine Grundrechte und die damit verbundenen Freiheiten jetzt nutze, wird sich das möglicherweise in einigen Wochen rächen?

Was ist aus Ihrer Sicht das beste Mittel, um den alten Rhythmus wiederzubekommen?

Zunächst einmal empfehle ich, darüber nachzudenken, womit man vor Beginn der Pandemie in seinem Leben zufrieden war. Was habe ich gerne gemacht, mit wem hatte ich Spaß? Was habe ich im zurückliegenden Jahr davon am meisten vermisst? Es hilft, sich dann klar zu machen, dass man im selbstgewählten Käfig sitzen bleibt, wenn man nicht zur Türe herausgeht und sich das zurückerobert. Bei manchen Aspekten möchte man vielleicht aber auch gar nicht mehr in den alten Rhythmus zurück, weil sich gezeigt hat, dass andere Modelle besser waren. Das Thema Homeoffice ist da ein gutes Beispiel.

Hat sich aus Ihrer Sicht mit Corona unser aller Leben nachhaltig verändert?

Corona war wie ein riesiges Vergrößerungsglas, das auf einen Schlag alle Probleme, die es in unserer Gesellschaft auch schon vorher gab, sehr viel deutlicher sichtbar gemacht hat: Überbürokratisierung, fehlende Digitalisierung, schlechte Schulgebäude, veraltete Technik, fehlende Vernetzung, um nur einiges zu nennen. Dieser Probleme werden wir uns schneller, effektiver und vorausschauender annehmen müssen als vorher. Das sollte eine wichtige Lehre aus der Pandemie sein. Ob unser persönliches Leben durch Corona nachhaltig verändert wurde, hängt von der Altersgruppe ab, zu der man gehört. Für die meisten wurde das eigene Leben nur kurzfristig und höchstwahrscheinlich nicht nachhaltig verändert. Dies gilt aber nicht für die Altersgruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Diese wurden von der Politik aber auch von der Gesellschaft als Ganzes nahezu vollständig vergessen. Wir haben die ersten Studien vorliegen, die erhebliche Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung in dieser gesellschaftlichen Gruppe durch Corona nachweisen. Das wird eine ganz nachhaltige Veränderung von Lebensläufen und Persönlichkeiten sein, die so nicht aufgetreten wären.

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