Bonn-Umzug nach BerlinVor 30 Jahren kam die Zeitenwende am Rhein

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Große Konferenz 2016 im Alten Rathaus in Bonn.

Große Konferenz 2016 im Alten Rathaus in Bonn.

Bonn/Rhein-Sieg-Kreis – Das letzte Wort hatte der SPD-Politiker Hans Wallow, der für den Wahlkreis Ahrweiler/Mayen im Deutschen Bundestag saß. Er überreichte dem Vizepräsidenten Dieter-Julius Cronenberg sein Redemanuskript, erleichterter Beifall brandete auf, dass da nicht noch einer ans Pult trat – immerhin hatten 160 Abgeordnete Reden angemeldet, viele aber verzichtet und, wie Rhein-Sieg-Landrat und CDU-MdB Franz Möller, ihre Beiträge zu Protokoll gegeben -, doch Wallow stieg aufs Podium, sprach in den Applaus hinein: „Nicht zu früh klatschen!“ Und weiter: „Ich bin für Bonn, weil ich weiß, dass diese Zeit unserem Land einen wahren Wert gegeben hat. Ich danke Ihnen.“

Die Region im Schulterschluss

Danach begann nach elfstündiger, hoch emotionaler Debatte an diesem 20. Juni 1991, gut anderthalb Jahre nach dem Mauerfall, die historische Abstimmung über die künftige deutsche Hauptstadt. Bonn oder Berlin? Das Parlament tagte provisorisch im Wasserwerk, weil der Plenarsaal umgebaut wurde, die Damen und Herren des Bundestages saßen eng an eng.

Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) 

Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) 

Auf der Zuschauertribüne hatte Bonns Oberbürgermeister Hans Daniels (CDU), auf der Bundesratsbank Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) Platz genommen. Der war bereits am Vortag nach Bonn geflogen, um bei Bundeskanzler Helmut Kohl gut Wetter für seine Stadt zu machen. Unnötig, denn Kohl hatte seit Monaten kein Hehl daraus gemacht, dass er für Berlin war. Weil Diepgen also schon am Rhein weilte, hat er möglicherweise nicht lesen können, was an jenem 20. Juni bei ihm zuhause der Komiker Otto Waalkes an einer Wandzeitung am Ku’damm-Eck plakatieren ließ: „Am besten, der Bundestag bleibt in Bonn und die Bundesnacht findet in Berlin statt – oder umgekehrt.“

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Über derlei Ostfriesenhumor hätte in Bonn niemand gelacht. Denn nach 107 Reden fiel um 21.47 Uhr im Wasserwerk eine für die Stadt bittere Entscheidung: Mit nur 18 Stimmen Mehrheit (320 gegen 338 Stimmen) votierte der Bundestag für Berlin. „Und jetzt wird gefeiert“, schloss Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth um 21.49 Uhr die Sitzung. Gefeiert wurde nur in Berlin, Hunderte schwenkten wie nach einem gewonnenen Fußballspiel auf dem Breitscheidplatz Fahnen, auf dem Kurfürstendamm gab es ein Hupkonzert.

Bonn-Vertrag weiter unklar

Und in Bonn? Während Berlin-Befürworter Kohl „jede triumphierende Geste“ vermied, wie sich sein damaliger enger Mitarbeiter Stephan Eisel erinnert, nahm Diepgen im Wasserwerk demonstrativ Glückwünsche entgegen. Der tief betroffene Hans Daniels eilte zum Bonner Marktplatz, wo eine große Menschenmenge die Liveübertragung der Debatte verfolgt hatte. Viele weinten. Daniels sagte ihnen: „Diesen Beschluss wird Bonn leichter verkraften als Deutschland“.

Ein prophetischer Satz. Denn 30 Jahre nach dem Berlin-Beschluss blicken Bonn und die Region auf eine Erfolgsgeschichte zurück - einerseits. Andererseits ist nicht klar, ob und wie die im Berlin/Bonn-Gesetz von 1994 vereinbarten Regelungen fortbestehen werden und ob nicht die Hauptstadt weitere zentrale Funktionen zulasten der Bundesstadt an sich ziehen wird.

Kohl hatte sich für eine „faire Arbeitsteilung“ zwischen beiden Städten ausgesprochen. So wurde in dem Gesetz von 1994 festgelegt, dass die Mehrzahl der ministerialen Arbeitsplätze in Bonn verbleiben soll. Die Bundesregierung hat am 1. September 1999 offiziell ihre Arbeit an der Spree aufgenommen, sechs von 14 Ministerien haben ihren ersten Dienstsitz noch immer am Rhein: Landwirtschaft und Ernährung, Verteidigung, Gesundheit, Umwelt, Bildung und Forschung sowie Entwicklung.

Nur noch 30 Prozent der Posten in Bonn

Fakt ist aber: Nur noch 30 Prozent aller Dienstposten sind laut Stadtverwaltung in der Bundesstadt, nämlich 6682, gegenüber 15 738 in Berlin. Der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle hat dieses Phänomen einmal so beschrieben: „Der Beamte will zur Sonne“. Soll heißen: Nur wo der Chef mich bestrahlt, kann ich Karriere machen. Und die Chefs sitzen in Berlin.

Diese Zweiteilung des Regierungsbetriebs hat einen teuren Wanderzirkus entstehen lassen. 19 849 Dienstreisen wurden 2019 zwischen beiden Städten abgerechnet, 54 am Tag. Die Flugbereitschaft des Verteidigungsministeriums düste zwischen dem 1. April 2019 und dem 30. April 2020 genau 761 Mal hin und her, 617 Mal ohne Passagiere. Das Finanzministerium bezifferte 2019 die teilungsbedingten Kosten in einem Bericht an den Haushaltsausschuss auf 9,16 Millionen Euro.

Bund der Steuerzahler will Komplett-Umzug nach Berlin

Solche Summen alarmieren stets den Bund der Steuerzahler, der schon seit Jahren ruft: Alle Ministerien nach Berlin! Und damit nicht mehr allein ist. Diesen Trend sehen auch die Politiker in der Region, die zum 30. Jahrestag des Umzugs-Beschlusses vom Bund verbindliche Zusagen für die künftige Gestaltung der fairen Arbeitsteilung fordern. Nämlich einen Bonn-Vertrag, der in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und SPD vom 12. März 2018 auch festgeschrieben worden ist. Bonn, die Kreise Rhein-Sieg, Ahrweiler und Neuwied sowie die Landesregierungen von NRW und Rheinland-Pfalz haben deswegen im Juni 2019 ein Leitbild verabschiedet, um das Profil der Bundesstadt als „Kompetenzzentrum für Deutschland“ weiter zu schärfen und dauerhaft zu sichern. Doch ein Gespräch darüber mit dem „Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich“, Innenminister Horst Seehofer (CSU), hat bisher nicht stattgefunden. Einen Termin wird es wohl auch vor der Bundestagswahl nicht mehr geben. Landrat Sebastian Schuster (CDU) sieht die Chance bei „Null“.

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Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner (Grüne) will dennoch nicht aufgeben: Die Region bleibe gesprächsbereit. „Wir gehen mit Elan in die Verhandlungen im Herbst und stimmen uns vor der Sommerpause noch einmal ab, wie wir uns positionieren.“

Die im Bonn/Berlin-Gesetz verankerten Verpflichtungen „werden durch das bevorstehende Ende der Legislaturperiode im Bund nicht berührt,“ gibt sich auch der Chef der NRW-Staatskanzler, Nathanael Liminski, optimistisch.

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