HandballDHB-Mannschaftsarzt Kurt Steuer vor letztem EM-Spiel im Interview

Lesezeit 5 Minuten
Immer dicht an den Spielern dran ist Mannschaftsarzt Professor Kurt Steuer.

Immer dicht an den Spielern dran ist Mannschaftsarzt Professor Kurt Steuer.

  • Das Ende der Handball-EM bedeutet auch für Mannschaftsarzt Kurt Steuer das Ende einer stressigen Zeit.
  • Im Interview kritisiert Steuer den Umgang mit Bundestrainer Christian Prokop.

Bonn – Die deutsche Handball-Nationalmannschaft um Trainer Christian Prokop trifft am Samstag um 16 Uhr bei der Europameisterschaft in Stockholm im Spiel um Platz fünf auf Portugal. Damit geht für den Tross, zu dem auch Teamarzt Professor Kurt Steuer vom Bonner Johanniter-Waldkrankenhaus gehört, eine stressige Zeit zu Ende. Mit Steuer sprach Wolfgang Kirfel.

Wie ist die Stimmung im Team vor dem letzten Spiel bei der Europameisterschaft?

Die Stimmung im Team ist sehr gut, nach der Niederlage mit einem Tor gegen die Kroaten aber natürlich nicht euphorisch. Ich bin überrascht wie konsequent die Männer sich doch auf ihre eigentliche Aufgabe, das Handballspiel fokussieren können, dies trotz der Tatsache, dass „alternde Cowboys“ aus der Hüfte heraus auf unseren Trainer schießen. Wenn die Spieler in einer ausverkauften Wiener Stadthalle nach einer guten Leistung gegen den Gastgeber in der Media-Mixed-Zone mehr Fragen zu dem eigenen Trainer als zum sportlichen Ergebnis an sich beantworten müssen, ist diese Situation für uns zwar nicht mehr ganz neu, aber deswegen immer noch nicht korrekt. Die mediale Trainerdiskussion zur Unzeit belastet die Mannschaft.

Nun steht das Spiel um Platz fünf an. Wie wichtig nimmt die Mannschaft die Partie?

Die Europameisterschaft ist eine Zwischenstation auf dem Weg zu den Olympischen Spielen in Tokio im Sommer dieses Jahres. Deutschland ist bis jetzt nicht qualifiziert und muss im April ein Turnier mit vier Mannschaften als Sieger oder als Zweitplatzierter bestreiten. Wenn Norwegen Europameister wird, treffen wir in Berlin vermutlich auf Spanien und Portugal. Dazu kommt eine exzellente afrikanische Mannschaft, die an einem guten Tag ebenfalls jeden Gegner schlagen kann. Unter diesen Rahmenbedingungen muss Christian Prokop gerade die Spiele unter Stressbedingungen intensiv nutzen, um hier ein schlagkräftiges Team für April 2020 zu entwickeln. Die Platzierung im Rahmen der Europameisterschaft ist für uns nicht so wichtig, aber wir wollen dieses Spiel unter wirklichen Stressbedingungen nutzen und uns durchsetzen.

Viele Spiele in wenigen Tagen kosten viel Kraft. Wie intensiv war das Turnier für Sie?

Das Resultat sind Augenringe und ein ebenfalls müder Teamarzt. Wir sind dankbar, dass wir unter medialen Gesichtspunkten zur Primetime um 20.30 Uhr spielen durften. Daraus folgt aber ein Spielende gegen 22 Uhr, eine Stunde später sind dann alle geduscht im Bus. Nach dem Abendessen im Hotel um Mitternacht schlafen die Spieler im Idealfall nicht vor 2 Uhr. Die Spieler die darüber hinaus mit ihrer persönlichen Leistung nicht komplett zufrieden sind, gehen die einzelnen Szenen zwischen zwei und vier Uhr noch mehrmals gedanklich durch. Wenn die Nacht dann um 9 Uhr zu Ende ist, ist niemand ausgeschlafen. Wir brauchen den Folgetag aber, um uns auf den neuen Gegner vorzubereiten, die Spieler zu behandeln und dem Körper Kalorien zuzuführen.

Hatten Sie viel Arbeit bei dem Turnier?

Man muss davon ausgehen, dass im Rahmen eines vergleichbar eng getakteten Turniers die Physiotherapeuten und der Mannschaftsarzt 24 Stunden erreichbar sein müssen und 12 bis 16 Stunden für die Mannschaft arbeiten. Im Detail dringt natürlich von dieser Arbeit, auch um dem kommenden Gegner keine Hinweise zu geben, nichts nach außen. Für den Mannschaftsarzt ist der Spagat zwischen einem verantwortungsvollen Umgang mit seinen Jungs und dem eigenen Anspruch, dem Trainer eine konkurrenzfähige Mannschaft auf dem Feld zu lassen, eine wirkliche Herausforderung. Realistisch ist, dass keiner der Spieler, welcher aus der laufenden Handballsaison zur Nationalmannschaft anreist, vollkommen gesund, geschweige denn frisch dem Trainer zu Verfügung steht.

Welche Anforderungen gibt es an die Spieler?

Handball spielen ist nicht 60 Minuten laufen und Tore werfen. Moderner Spitzenhandball beinhaltet ein intensives Videostudium des kommenden Gegners. Alle Spieler müssen in diesem System komplexe Abläufe innerhalb von 36 Stunden neu lernen und verinnerlichen um diese dann nachfolgend unter Stress in Sekundenbruchteilen im Idealfall richtig umzusetzen.

Handballspieler sind nicht nur körperlich belastet, sondern vor allen Dingen mental gefordert, gleichzeitig aber nie ausgeschlafen. In dieser Gemengelage droht der individuelle sportliche Misserfolg, schwerer wiegt darüber hinaus natürlich das Risiken sich regelrecht körperlich zu verletzen.

Wie sind Sie mit dem Reisestress klargekommen?

Wir sind seit dem 2. Januar im Team zusammen und sind zuerst von Frankfurt über Mannheim nach Wien gereist, wo wir jeweils ein Vorbereitungsspiel gegen Island und Österreich bestritten haben. Danach sind wir für eine Woche nach Trondheim geflogen und haben jeden zweiten Tag gespielt. Ohne Pause ging es dann für vier weitere Begegnungen nach Wien. Nach einer erneut extrem kurzen Nacht sind wir am Donnerstagmittag in Stockholm gelandet. Diese Reisen haben natürlich überhaupt keinen Urlaubscharakter, sie sind anstrengend, schaffen Stress und belasten die Protagonisten.

Sind die Strapazen für die Spieler zu hoch?

Professioneller Handball ist ein mediales Unterhaltungsprodukt. Wer im öffentlich rechtlichen Fernsehen zwischen fünf und sieben Millionen Zuschauer für zwei Stunden wirklich an den Fernseher binden will, muss entweder extrem viel Geld in eine Produktion investieren oder aber Sportler verpflichten. Machen wir uns doch klar: Handball ist eine gehandelte Ware. In diesem System sind die Sportler als die eigentlichen Akteure die schwächsten Glieder.

Der Trend, Leistung bis zur Selbstzerstörung zu verdichten, ist von mir sowohl im Gesundheitssystem als auch im Handballsport zu beobachten. Auf beiden Feldern ist dieser Effekt nur durch eine brachiale Vollbremsung aufzuhalten, bevor wir nachfolgend beginnen sollten uns primär um die Beteiligten und um ihre realen Bedürfnisse zu kümmern und im Idealfall für alle möglichst sinnvolle Rahmenbedingungen zu schaffen.

Rundschau abonnieren