Neugeborenes in Bonn ausgesetztMutter von „Baby Paul“ gesteht ihre Tat

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Tröstend legt Verteidigerin Nadine Krahé den Arm um ihre Mandantin, die gestern unter Tränen gestand, ihr neugeborenes Kind ausgesetzt zu haben.

Tröstend legt Verteidigerin Nadine Krahé den Arm um ihre Mandantin, die gestern unter Tränen gestand, ihr neugeborenes Kind ausgesetzt zu haben.

Bonn – Die Neugier zum Prozessauftakt war gestern groß: Wer ist die Frau, die ihr eigenes Kind nach der Geburt in einen Rucksack steckt und es in einem einsam gelegenen Gebüsch ablegt, in der Nähe einer Eisenbahntrasse? Die 21-Jährige, die gestern zur Anklagebank geführt wurde, scheint selber noch ein Kind zu sein: Zierlich, verletzlich, ein Mädchen, das ihr brünettes Haar zum Pferdeschwanz gebunden hat. Zum Schutz vor dem Blitzlichtgewitter zog sie die Kapuze ihres Sweaters über den Kopf; schließlich stellte sich ihre Anwältin Nadine Krahé mit breiter, schwarzer Robe schützend vor sie. Die Sportstudentin, der versuchter Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen werden, hat vor dem Bonner Schwurgericht ein umfassendes Geständnis abgelegt, immer wieder unter Tränen.

„Ein Bilderbuch-Kind“, sagte die Angeklagte, sei sie gewesen. „Ich war sehr fröhlich, habe viel gelacht, habe versucht, es allen Recht zu machen und niemanden zu verletzen.“ Vor allem nicht die Eltern, die sich getrennt haben, als sie neun Jahre alt gewesen war. Sie segelte, spielte Klavier und Fußball und und tanzte früh bereits in einer Karnevalstruppe. Dann der Einbruch in diese scheinbar bürgerlich-heile Welt: Die Angeklagte wurde schwanger – und reagierte mit Panik. „Das Kind habe ich nicht gewollt!“ Der Kindsvater, mit dem sie seit einem Jahr liiert gewesen war, ist zwölf Jahre älter, spielt ebenfalls Fußball und wohnt in Koblenz. Sie hatte ihn niemandem vorgestellt, weil sie sich schämte. „Er war nicht meine Liebe“, aber sie habe nicht gewagt, es ihm zu sagen. Auch nicht, dass sie schwanger ist. Das hatte sie auch vor sich selbst verdrängt.

„Ich habe versucht, so zu tun, als wäre alles ganz normal.“ Selbst als sie von ihrem Fußballtrainer, von Freundinnen oder auch den Eltern auf ihre körperliche Veränderung angesprochen wurde, reagierte sie mit Ausreden: Sie habe eine neue Pille genommen oder zu viel gegessen. Trotz Leistungsabfalls im Sport und weiten Pullovern im Hochsommer, blieb sie bei ihrer Lüge. Die Idee einer Adoption, die ihr in einem Internetforum, in dem sie Rat gesucht hatte, angetragen worden sei, habe ihr noch mehr Druck gemacht, also habe sie den Gedanken verworfen. Für eine Abtreibung war es da schon zu spät. Die größte Angst jedoch hatte sie vor ihren Eltern: Sie durften die Wahrheit um nichts in der Welt erfahren. Am Tag der Festnahme, am 8. August 2014, begrüßte die Angeklagte den Kripobeamten mit den Worten: „Wenn meine Mutter das erfährt, wird sie mich umbringen.“ Diese Panik konnte die Angeklagte gestern nicht erklären, denn ihre Eltern stünden heute zu ihr, „egal was kommt.“

Schüler entdeckten das Baby

Am 28. Juni 2014 hatte die Studentin das Kind im Haus ihrer Mutter alleine zur Welt gebracht. Sie hat es in die Hand genommen, angeschaut, abgewischt, in einen Schal gewickelt und in den Rucksack gelegt: „Es ist schrecklich zu sagen, aber das Kind gehörte nicht zu mir. Ich hatte keine Beziehung.“ Vor allem: Das Kind musste weg, bevor die Mutter nach Hause kommt. Zwei Stunden lang will die Angeklagte nach der Geburt durch die Nacht gefahren sein, den Rucksack mit ihrem Kind aufgeschnallt. Vor allem Klöster, Kirchen und Krankenhäuser habe sie angefahren, aber es sei „immer zu viel los“ gewesen. Da der Zeitdruck zunahm, legte sie das Neugeborene schließlich in Limperich ab. An einem Weg, den zu dieser Uhrzeit keiner mehr entlanggeht. Außer drei 17-jährigen Schülern, die an diesem Abend auf dem Heimweg vom Rhein waren: „Wir hörten ein Wimmern und dachten zunächst, es ist eine Katze“, erzählte gestern einer der drei Retter. Schließlich das Entsetzen: Aus dem Rucksack kam das Weinen eines Kindes. Das Trio rief die Polizei, der Notarzt legte den stark unterkühlten Säugling (29, 6 Grad) in eine Wärmefolie und brachte es in die Kinderklinik. Baby Paul kam durch und lebt heute bei Pflegeeltern.

Die Berichte über die Rettung des Kindes habe sie in ein „totales Gefühlschaos“ geworfen, so die Angeklagte. Einerseits sei sie erleichtert gewesen, dass es gefunden wurde, andererseits drohte ihr weiterhin die Entdeckung. Nach intensiver Fahndung hat schließlich eine Sportskollegin der Polizei den entscheidenden Tipp gegeben. Sie hatte die Veränderungen der Angeklagten mit dem ausgesetzten Baby zusammengebracht. Für die Rettung ihres Kindes hat die Verteidigerin sich gestern im Namen der Angeklagten bei den drei Schülern ausdrücklich bedankt. „Es ist für mich heute schwer nachvollziehbar, wie ich damals gehandelt habe“, sagte die Angeklagte. Aber auch nach der Tat hat sie ein ambivalentes Verhältnis zu dem Kind: „Es gab auch Phasen, in denen ich es ganz gerne gehabt hätte.“ Nach zweistündiger Aussage brach die 21-Jährige zusammen und weinte in den Armen ihrer Verteidigerin.

Der Kindsvater soll wie auch ihre Familie als Zeuge gehört werden. Er hat beantragt, die Öffentlichkeit auszuschließen.

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