Berufsspaziergänger Rainer SelmannStadtspaziergänge durch die Bonner Innenstadt

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Erzählt als Berufsspaziergänger Geschichten und Legenden über Bonn: der Historiker Rainer Selmann.

Erzählt als Berufsspaziergänger Geschichten und Legenden über Bonn: der Historiker Rainer Selmann.

Bonn – Mitten in der Innenstadt, kaum beachtet von den Passanten, ist ein Stein in den Boden eingelassen. Seine vergoldete Vertäfelung weist auf den höchsten Punkt in der Bonner City hin. Stolze 61,69 Meter über Normalhöhennull befindet sich der Betrachter an dieser Stelle direkt vor einem vegetarischen Restaurant: „Im Sommer gibt es hier eine Außengastronomie. Wenn ich mit einer Gruppe auf den Stein zusteuere, staunen die meisten nicht schlecht, die dort sitzen“, sagt Rainer Selmann. Er ist eigentlich ein Fremdenführer, bevorzugt aber den Begriff Berufsspaziergänger.

Selmann erfand vor 14 Jahren den Bonner Stadtspaziergang. Der Historiker trug damals für eine Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 Informationen zusammen: „Darüber bin ich auf die allgemeine Stadtgeschichte gekommen.“ Seit sechs Jahren kann er von den Einnahmen seiner Touren leben und nennt sich darum Stadtspaziergänger.

„Das einzigartige Bonn auf den zweiten Blick“ garantiert Selmann heute. Acht Teilnehmer, die allesamt schon einmal mit von der Partie waren, haben sich eingefunden, um etwas über die Tatsachen und Legenden der Bundesstadt zu erfahren. Treffpunkt ist das Beethoven-Denkmal auf dem Münsterplatz. Nachdem jeder neun Euro entrichtet hat, beginnt Selmann.

Führung durch die Innenstadt

Es geht über den großen Teich nach Ohio/USA ins dortige Bonn. 1835 gründeten Rheinländer, die für einen schottischen Tuchhändler arbeiteten, die Stadt. Flugs zieht der Chefspaziergänger eine dicke Mappe mit unzähligen Bildern aus seiner Tasche und präsentiert eine 17 Jahre alte Aufnahme des amerikanischen Bonn – mit knapp 20 Häusern. Staunen macht sich breit, bis ein älteres Pärchen die Gruppe passiert und lautstark über einen 20-prozentigen Rabatt auf Schuhe sinniert.

Selmann lässt sich nicht stören und geht nun auf die Statue ein: „Bei der Enthüllung standen die Ehrengäste auf dem Balkon der heutigen Post. Sie waren etwas verwundert, als der Vorhang fiel, dass der Meister ihnen den Rücken zudrehte. Das haben sie letztlich auf sein bekannt biestiges Verhalten zurückgeführt.“ Ein bisschen Streberwissen gibt’s obendrauf: „Beethovens Großvater kam aus Mechelen. Der Name heißt übersetzt Rübenhof.“ Das Denkmal überstand den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Zum Beweis zückt Selmann ein Foto mit einem einsamen US-Soldaten vor dem Werk und zig zerbombten Häusern: „Vielleicht kam er ja aus Bonn in Ohio“, scherzt eine Teilnehmerin.

Die Chemie in der Gruppe stimmt. Das findet auch Heinz Hönig, der sich fleißig Notizen macht: „Ich biete selbst Führungen durch die Innenstadt an und lasse mich von dem Kollegen inspirieren. Heute waren einige Neuigkeiten dabei“, sagt der Konkurrent. Als diesen sieht ihn Selmann nicht, sondern tauscht sich rege mit ihm aus.

Führungen

Der gerade erschienene Prospekt „Bonner Stadtspaziergang“ listet auf, welche Themen Rainer Selmann in Bonn beleuchtet. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, sämtliche Touren können Interessierte zu individuellen Terminen buchen. Weitere Infos  per E-Mail RSelmann@kultnews.de oder unter Telefon (0228) 69 76 82.

„Tatsachen und Legenden“ wird am 3. Februar und 28. April um 11.30 Uhr wiederholt, Treffpunkt Beethoven-Denkmal.

„Südstadt neu entdeckt“, 22. April, 11.30 Uhr, Treffpunkt Ernst-Moritz-Arndt-Haus, mit Themen wie „Ein Mammut in der Kirche“ und „Ein Weckmann als drittes Geschlecht“.

Zentralfriedhof, 6. Oktober, 11.30 Uhr, Treffpunkt am Eingang, „Prominenz in Plittersdorf. Barzel und der Memoriam-Garten.“ (lh)

www.kultnews.de

Bei den Herren der Schöpfung kommt Interesse auf, als Selmann sie zum ältesten Brauhaus führen will. Als die Gruppe Halt an einem Teehaus macht, herrscht schnell Verwunderung. Doch es ist ein Exkurs: „Das ist das einzige Fachwerkhaus in der Innenstadt. Es stammt aus dem Jahr 1658. Ich kenne einen Elektriker, der hier gearbeitet hat. Bei ihm durfte ich einen Blick in die Unterlagen werfen“, beweist Selmann Hintergrundwissen.

Weiter geht es durch die Acherstraße, in der die Teilnehmer mühelos die höchste Stelle der City erklimmen und an einer Ecke stehen bleiben. Dort war bis 2001 das Brauhaus „Im Bären“ beheimatet. Nachdem der Besitzer Insolvenz anmelden musste, stand die Lokalität lange leer. Mittlerweile ist sie kernsaniert, eine Modekette ist eingezogen. Der Berufsspaziergänger blättert kurz, zeigt ein Bild der Innenansicht und verrät, dass im Bären seit 1385 derselbige steppte. Kaum fertig, beginnt die Gruppe zu diskutieren, welches nun das älteste Brauhaus ist. Im Stiefel? Em Höttche? Die Meinungen gehen auseinander. Selmann genießt die Situation, in der aus dem Vortragenden ein Zuhörer wird. Kommunikation statt Frontalvortrag, miteinander statt gegenüber.

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Es folgen Abstecher in die Zeit der alten St. Remigiuskirche, direkt neben „Im Bären“ gelegen, eine Erinnerung an das Kaufhaus Blömer, das Anfang der 1990er Jahre ein gewöhnungsbedürftiges Flamingo-Rot trug, und ein Hinweis auf die Merkur-Figur, die über den Remigiusplatz wacht. Zu all diesen Kleinodien nennt Selmann mit ruhiger und deutlicher Stimme die Hintergründe, die er mit Bildmaterial unterstreicht. Das gilt auch für die heutige Uni, die als Kurfürstliches Schloss 1777 fünf Tage lang abbrannte: „Der Brandmelder saß in der Remigiuskirche, hat aber die Glocken nicht geläutet, um die Bürger zu warnen“, so der Historiker. „Das hat ihn seinen Job gekostet.“

Am Ende des zweieinhalbstündigen Rundgangs ist manchen wegen der niedrigen Temperaturen zwar kalt. Doch aufgrund der Spannung, die Selmann nie abebben ließ, hatten sie vorher keine Gelegenheit, das zu bemerken.

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