„Critical Mass“Die mysteriösen Schwarmradler von Köln

Lesezeit 4 Minuten
Bunt gemischt: Den „typischen“ Critical-Mass-Teilnehmer gibt es nicht. Vom Studenten, über die Hausfrau bis hin zur Führungskraft reicht die Spannbreite. (Foto: Schmülgen)

Bunt gemischt: Den „typischen“ Critical-Mass-Teilnehmer gibt es nicht. Vom Studenten, über die Hausfrau bis hin zur Führungskraft reicht die Spannbreite. (Foto: Schmülgen)

Köln – Als sich der Schwarm am Rudolfplatz in Bewegung setzt, ist der Hohenzollernring dicht. An der Ampel vor der Aachener Straße stauen sich die Autos, auf den Bürgersteigen stehen Passanten, die mit offenen Mund zur Straße blicken. Die beiden Fahrbahnen Richtung Friesenplatz haben Radfahrer in Beschlag genommen, fast 700 sind es an diesem Abend. Sie nennen sich Critical Mass, auf Deutsch „kritische Masse“, und dürfen als größerer Verbund im Straßenverkehr zusammenhängend fahren.

Ampeln können die Gruppe nicht stoppen

Auch eine rote Ampel kann die Gruppe nicht trennen und so vergehen schon Mal mehrere Minuten, ehe der Lindwurm eine Straße passiert hat. Es gibt Autofahrer im Feierabendverkehr, die das nicht lustig finden. An jedem letzten Freitag im Monat, 18 Uhr, trifft sich die Critical Mass seit fünf Jahren zur gemeinsamen Tour am Rudolfplatz. Ähnliche Aktionen gibt es in Städten weltweit, die erste dieser Art fand 1992 in San Francisco statt.

Benjamin Jendrosch, 37, Vertriebsingenieur und Stephanie Nowak, 30, Lehrerin, sind am Freitag das erste Mal dabei. „Die sind im vergangenen Monat bei uns vorbeigefahren und da haben wir uns gedacht, da fahren wir mal mit.“ Um sie herum stehen die Veteranen der Tour, die seit drei, vier Jahren dabei sind. „Das macht einfach unheimlich Spaß“, sagt Michael, 58, selbstständiger Kaufmann, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Es geht aber auch darum, als Fahrradfahrer im Verbund anders wahrgenommen werden.“ Er glaubt, dass die Critical Mass dazu beigetragen hat, dass die Stadt die Belange der Radfahrer immer stärker im Blick hat.

Acht Fahrradpolizisten in neongelber Uniform begleiten an diesem Abend den Schwarm. „Wir wollen, dass keinem etwas passiert, deswegen fahren wir hier mit. Es ist ja das gute Recht der Gruppe, durch die Stadt zu fahren“, sagt einer der Polizisten.

Für die Polizei eine Versammlung

Für die Polizeibehörde ist diese Bewegung ein schwer zu fassendes Phänomen. Denn die Critical Mass will keine Demo oder Versammlung sein, „sondern eine Fahrradtour, die der Zurschaustellung eines Lebensgefühls dient“, wie es Marco Laufenberg in seinem Blog für Kölner Radverkehrspolitik beschreibt. Laufenberg, 44, schlank, durchtrainiert, die langen Haare zu einem Zopf gebunden, ist mit seinem Rennrad bei den meisten Ausfahrten dabei. Ihn hat die Polizei zuletzt als möglichen Veranstalter identifiziert. Eine Rolle die Laufenberg, der beruflich das Publikum vor TV-Sendungen bei Laune hält, weder beansprucht, noch ausfüllen möchte und bei Nachfrage vehement abstreitet.

Dennoch, die Polizei wertet Critical Mass als Versammlung, die angemeldet werden müsste, sagte ein Sprecher der Rundschau. Dazu gehöre auch die Aussage, wohin die Tour gehen wird. „Dann könnten wir zum Beispiel schauen, ob die Route frei ist und mit einem Versammlungsleiter die Tour vorbereiten“, sagte der Sprecher. Doch genau dies berührt ein Grundgefühl der Critical Mass, denn der Schwarm folgt immer dem Fahrer, der gerade an der Spitze fährt. Dieser wechselt häufig, die Route ist also zufällig.

Von den Ringen führt der Weg am Freitag stadtauswärts über die Venloer Straße. Ein Mann verlässt mit zwei Sträußen einen Blumenladen und fragt: „Was ist denn hier los?“ Wenig später ruft eine ältere Dame in rotem Mantel der Mass ihre Ratlosigkeit entgegen: „Wo wollt ihr denn hin?“ Niemand antwortet.

Sperrungen laufen nicht immer friedlich ab

Ein Mann mit Klapprad und grauem gepflegen Bart schließt sich dem Zug spontan an. Er fragt: „Seid ihr eine Demo oder so etwas?“ Als er erfährt, womit er es zu tun hat, ist Dr. Hubertus Bürgstein, Leiter Qualitätsmanagement im Klinikum Leverkusen, spontan begeistert. „Das passt mir eh ganz gut, weil ich in die Richtung will.“ Der Zug passiert die Innere Kanalstraße, links und rechts stauen sich, blockiert von Polizisten und Teilnehmern, die Autos. Auf dem gesamten Weg werden Einmündungen, Seitenstraßen und Fußgängerüberwege aus Sicherheitsgründen von Radlern der Gruppe gesperrt. Das läuft nicht immer friedlich ab.

Die Autofahrer, die von der A57 auf die Subbelrather Straße kommen, sind hörbar genervt. Es ertönt ein Hupkonzert, auf das die Radler mit Klingeln antworten. Zurück auf den Ringen ertönt plötzlich der Ruf: „Herr Wachtmeister!“ Einer der Fahrer, die die Seitenstraßen blockieren, ruft einen Polizisten zu Hilfe. Ein Autofahrer hatte versucht, über den Gehweg die Blockade zu umfahren. Aus dem Auto steigt ein Mann, der sich im breitesten Kölsch rechtfertigt. „Ich wollte da vorbei, um mich in die Radfahrergruppe einzuordnen.“ Ein Polizist erklärt ihm, warum das nicht geht. Doch solche Szenen sind selten an diesem Abend, zumeist ist die Reaktion der Wartenden verwundert bis freundlich.

26 Kilometer vom Rudolfplatz und zurück

Plötzlich entsteht eine Lücke, der Verband droht, gesprengt zuwerden. „Aufschließen“, ruft Christoph Schmidt, der sich beim ADFC engagiert. Schmidt, 39, IT-Unternehmer, fährt seit drei Jahren mit: „Das ist für mich immer der schönste Tag im Monat“, sagt er. Hier habe er seine Freunde gefunden, als es ihn nach Köln verschlagen hatte und er niemanden kannte. Hat es mal Unfälle gegeben bei den Touren? „Nur Eigenunfälle, aber noch nie mit anderen Verkehrsteilnehmern“, sagt Schmidt, während die Mass Richtung Niehl fährt. Erst gegen 20.45 Uhr nach 26 gefahrenen Kilometern wird die Tour am Ausgangspunkt Rudolfplatz enden.

Rundschau abonnieren