„Hätten wir das vermeiden können?“Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Interview

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Oberbürgermeisterin Henriette Reker

  • Bei einem Außendiensteinsatz ist ein städtischer Vollstreckungsbeamter am 13. Dezember erstochen worden.
  • Der 47-Jährige wusste nichts von der Gefahr, die von dem mutmaßlichen Täter ausging.
  • Im Interview spricht Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker über ihre Erfahrungen und Lösungen.

Im Interview mit Stefan Sommer und Matthias Hendorf spricht Oberbürgermeisterin Henriette Reker über  die Verantwortung der Stadt.

Frau Reker, wie haben Sie von dem tödlichen Messerangriff auf den Mitarbeiter der Kämmerei gehört?

Henriette Reker: Wir saßen an diesem Freitag im Rhein-Gymnasium anlässlich des Spatenstichs, mein Sprecher saß hinter mir und sagte mir: „Einer unserer Kollegen aus der Vollstreckungsstelle ist angegriffen worden.“ Er teilte mir danach mit, dass der Kollege mit einem Messer gestochen worden ist und gerade im Rettungswagen wiederbelebt wird. Wir sind dann auch sofort gefahren, ich habe die ganze Zeit gehofft, er überlebt. Aber irgendwann hat mein Sprecher mir mitgeteilt, dass der Kollege gestorben ist. Das ist mir sehr nahe gegangen.

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Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?

Ich dachte sofort: Wie ist das passiert? Schon als der Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erstochen worden ist, habe ich zu meinem Ehemann gesagt: Es ist schrecklich, wenn man erschossen wird, aber ich kann es mir nicht so gut vorstellen wie einen Messerangriff. Wenn ein Messer im Spiel ist, habe ich wie eine Art Flashback an das Attentat auf mich. Jede Zelle meines Körpers ist dann alarmiert. Ich habe mich nicht nur gefragt, wie es dem Mann ergangen sein muss, sondern auch: Wir als Stadt haben den geschickt.

Und haben damit eine Verantwortung.

Ja, und die fühlt sich in diesem Moment sehr schwer an und drückt sehr. Da geht jemand morgens los und will nur seinen Dienst machen, eine Woche vor Weihnachten, und verliert sein Leben. Mir war der Kollege, wie ich hinterher festgestellt habe, auch aus dem Karneval bekannt.

Erwarten Sie Vorwürfe der Angehörigen, falls Sie sie treffen?

Möglich ist das, ja. Ich kann Ihnen nur sagen, wie betroffen mich das Ganze macht. 

Sie sind 2015 selbst im Wahlkampf mit einem Messer lebensbedrohlich angegriffen worden. 

Ja. Das ist eine Situation, die so archaisch ist. Ich habe mich deshalb nach der Tat in Dünnwald gefragt: Was hat der mutmaßliche Täter gedacht? Dazu gehört ja etwas, einen zu erstechen. Das ist so nahe, aus kurzer Distanz. Und ich habe auch an das Opfer gedacht, das noch genug Adrenalin in sich hatte, um zurück zur Haustür zu kommen. Das Adrenalin, das kenne ich noch von dem Angriff auf mich: Bei mir hat es am Anfang gar nicht so wehgetan, trotz der Schwere der Verletzung. 

Sie haben die Kämmerei nach dem Angriff besucht.

Es gab so viele offene Fragen: Wie geht es den Kollegen des Opfers? Wird noch jemals jemand für uns in den Außendienst rausgehen? Wie können wir die Mitarbeiter zukünftig besser schützen? Und wie kann so etwas vermieden werden? Einige Mitarbeiter haben sich nach der Tat zu Recht beschwert und gesagt: Wir werden hier Gefahren ausgesetzt, die nicht einschätzbar sind. Dafür habe ich großes Verständnis. Das macht mich auch so betroffen.

Fürchten Sie Langzeitfolgen, also dass Mitarbeiter gar nicht mehr raus gehen wollen?

Das glaube ich nicht, weil der mutmaßliche Täter wohl psychisch krank war, davor ist man leider nie geschützt. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber sobald so etwas bekannt ist, müssen natürlich Schutzmechanismen greifen. 

Die es aber nicht gab und noch nicht gibt, der Kämmereibeamte wusste nichts von dem Angriff auf Kollegen des Sozialamts. Hätte die Stadt nicht mehr vorsorgen müssen?

Für mich ist es selbstverständlich, dass ein Amt die Information über einen solchen Angriff weitergibt, wenn es dazu gekommen ist. Was aber nicht geschehen ist. 

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Fest steht: Wir sind bereits dabei, ein solches zentrales Melderegister aufzubauen, das soll bis Ende März 2020 abgeschlossen sein. Es muss eine solche Meldestelle geben, an die jedes Opfer eines Übergriffs sich hinwenden kann und die Informationen liefern kann. Da gibt es eine Sicherheitslücke, die wir dabei sind, so schnell wie möglich zu schließen. Bislang haben die Mitarbeiter die Gefahrenlage nach Aktenlage selbst beurteilt. Muss das nicht geändert werden?

Ich stelle mir vor, dass das Melderegister nicht nur eine anonyme elektronische Datenbank ist, sondern ein Mitarbeiter die Gefahrenlage einstuft. Das kann nicht jeder Mitarbeiter selbst tun, das schätzt ja jeder unterschiedlich ein. Da soll ein Automatismus eintreten, dass gefährliche Leute nur noch in bestimmten Personalkonstellationen aufgesucht werden, etwa mit Polizisten. So stelle ich mir das vor und ich werde auch darauf achten, dass das so kommt. Unsere Aufgabe ist es, den Dienst so sicher wie möglich für die Kollegen zu gestalten. 

Es gibt viele Vorfälle, nicht immer so schlimm wie in Dünnwald. Beleidigungen im Jobcenter gehören etwa dazu. Ein Warnsystem hätte es doch früher geben müssen. 

Das fragt man sich natürlich hinterher immer: Hätten wir das vermeiden können? Natürlich frage ich mich das. Wir haben ja Anfang des Jahres eine Stelle für Kriminalprävention gegründet (Zentrum für Kriminalprävention und Sicherheit, Anmerkung der Red.). Aber die Umgangsformen haben sich in den vergangenen Jahren verändert und insgesamt müssen wir eine zunehmende Verrohung feststellen. 

Es wird aggressiver im Ton. 

Ja. Das Internet lädt offensichtlich dazu ein. Es hat sich etwas verändert: Eigentlich ist es so gewesen, dass man Menschen wertgeschätzt hat, die sich für die Gesellschaft engagieren, etwa Polizisten oder Feuerwehrleute. Inzwischen ist das Verständnis eher so: Wir bezahlen die Menschen mit Steuergeldern, also können wir mit ihnen umgehen, wie wir wollen. Ich frage mich, wo das herkommt.

Auch Politiker werden zu Zielen verbaler Übergriffe oder sogar getötet wie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke. Findet man überhaupt noch Leute, die sich politisch engagieren, wenn man gefühlt an jeder Ecke beschimpft oder im Extremfall sogar angegriffen wird?

Es wird schwieriger, weil man schwieriger Leute findet, die sich ihrer Aufgabe mit Idealismus und Enthusiasmus stellen, wenn sie sogar Sorge um ihr Leib und Leben haben müssen. Das muss man ja erstmal aushalten, was da so an Kritik kommt. Das ist ja teils auch sehr unsachlich. Die Frage ist, wie sehr das einen mitnimmt. 

Wie ist das bei Ihnen?

Bei mir geht es, weil ich nach dem Attentat auf mich jetzt weiß, was wirklich schlimm ist. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wenn ich das Attentat nicht erlebt hätte, wäre ich sehr viel empfindlicher im Alltag. Ich habe Glück gehabt. Ich habe es zwar nicht so gerne, wenn mich etwa jemand von hinten drückt, da erschrecke ich mich. Aber ich bin angstfrei und habe die wenigste Angst um mich selbst. 

Sie treten noch mal zur Wahl an. Hat die Verrohung der Gesellschaft eine Rolle gespielt?

Nein, keine Sekunde. Da ging es eher um politische Unterstützung und nicht um mögliche Ängste im Wahlkampf.

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