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„Sonst kann es wieder so ausgehen“Was können Behörden aus dem Fall Kurt B. lernen?

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Tatort: An dieser Haustür in Dünnwald griff Clemens K. Kurt B. an.

Köln – Das Gericht spricht am Freitag das Urteil im Fall Kurt B. Der psychisch kranke Clemens K. soll Kämmereimitarbeiter B. am 13. Dezember tödlich verletzt haben. Matthias Hendorf sprach mit Chefarzt Joachim Nitschke über mögliche Versäumnisse der Behörden.

Wie kann es sein, dass ein psychisch kranker Mensch wie Clemens K. trotz so vielen gewalttätigen Angriffen nach sechs Wochen aus der Klinik entlassen wird? Ist das üblich?

Nitschke: Ja. Gottseidank haben wir in Deutschland eine Gewaltenteilung, es ist eine juristische Entscheidung, ob jemand eingewiesen wird. Die Hürde ist zu Recht hoch, ob jemand in einer Klinik untergebracht wird. Der Psychiater kann das nur empfehlen, sonst hätten sie viel zu viel Macht, um unliebsame Menschen wegzusperren. Man hätte die sechs Wochen aber natürlich verlängern können.

Wie lange?

Das ist von Bundesland zu Bundesland anders. Aber wenn er sich und andere gefährdet, kann man das verlängern. Aber auch hier gilt: Das ist eine juristische Entscheidung. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat nach der Entlassung von Clemens K. rund drei Monate gebraucht, um die Anzeigen der Polizei und des Landschaftsverbandes Rheinland sowie dessen Empfehlung, B. dauerhaft unterzubringen, zusammenzuführen. Das sind die typischen Informationsverluste. Ich kann nur empfehlen, dass die beteiligten Behörden sich diesen Fall mit einer offenen Fehlerkultur anschauen – sonst kann es beim nächsten Mal wieder genauso ausgehen.

Was ist das Problem?

Es fehlt eine zentrale Institution, also ein Fallmanager, der alle Informationen zusammen vorliegen hat und schnell ein Kurzgutachten erstellen kann, um einen Patienten in wenigen Stunden einweisen zu lassen. Ich kann nur empfehlen, dass NRW wie Bayern die Präventionsambulanzen einführt.

Wie läuft das ab?

Die Präventionsambulanzen richten sich an psychisch Kranke, die eine Gewaltneigung haben. Das ist ja nur die Minderheit, laut Studien sind es drei bis fünf Prozent der schizophrenen Patienten, bis zu 97 Prozent sind also ungefährlich. Die Patienten erhalten einen Ansprechpartner, wir halten telefonisch Kontakt und besuchen die Leute.

Ist es freiwillig?

Ja, trotzdem machen 85 Prozent dieser Hochrisikopatienten mit. Es ist eine Zwischenlösung zwischen absoluter Freiheit und einem Klinikaufenthalt. Eine enge, anonyme Betreuung hilft. Und wenn wirklich Gefahr in Verzug ist, empfehlen wir auch sofort, den Betroffenen in einer Klinik unterzubringen. In Bayern wird das Angebot jetzt flächendeckend ausgerollt.

Die Chronik

29. Januar 2019: Amtsgericht ordnet Begutachtung von Clemens K. (60) durch die Stadt an. Er wird gesetzlich betreut.

6. März 2019: Zwei Stadtmitarbeiter und zwei Polizisten besuchen K. in Dünnwald zur Begutachtung. Er greift die Mitarbeiterin des Sozialdezernats mit einem  Schraubenzieher an, sie wehrt den Angriff ab. Die Frau hat viel Glück, erleidet nur eine Verletzung am Mund.  K. wird  für sechs Wochen in eine  Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) eingeliefert.

23. März 2019: K. schlägt  in der Klinik  einen Pfleger, danach greift er eine Pflegerin  an. Die Polizei fesselt K.

25. März 2019: Der LVR regt gegenüber der  Staatsanwaltschaft an, den Mann sofort vorläufig in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen.

28. März 2019: Eingang des von Amts wegen eingeleiteten Verfahrens wegen Körperverletzung bei der Staatsanwaltschaft. Es gibt bereits eine Akte zum Vorfall vom 6. März. Am 2. April erstattet der LVR auch Anzeige, am 18. April wird er trotzdem entlassen.

Ende April 2019: Der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt wendet sich an den Betreuer, will Risiken abschätzen. Der Betreuer lehnt ab.

28. Juni 2019: Die Staatsanwaltschaft fragt einen Sachverständigen, ob er  K. begutachte. Sie erhält keine Antwort und hakt nicht nach.

13. Dezember 2019: Kämmereimitarbeiter Kurt B.  und eine Kollegin fahren zu K., um Geldforderung  einzutreiben. Sie haben keine Polizei dabei, weil sie nichts von dem Angriff  im März wissen – es gibt kein zentrales Melderegister. Kurt B. stirbt nach einem Angriff durch K.

14. Dezember 2019: Jetzt untersucht eine Sachverständige K.  vorläufig, das Ergebnis: Er ist „erheblich vermindert schuldfähig“, ohne umgehende Behandlung bestehe eine erhöhte Gefahr der Begehung weiterer Straftaten. Er wird in eine psychiatrische Klinik  gebracht.

Januar 2020: Der Fall erreicht den Landtag, die SPD fordert erfolglos den Rücktritt des Justizministers Peter Biesenbach (CDU). Der Vorwurf: Die Staatsanwaltschaft habe geschlampt. Kurt B. wird beigesetzt.

April 2020: Die Stadt führt das zentrale  Register  ein.

3. Juli 2020: Prozessauftakt  gegen K.  Er sagt, aus Notwehr gehandelt zu haben  und zurechnungsfähig zu sein.

14. August 2020: Das Urteil gegen Clemens K. soll fallen. (mhe)

Es setzt auch nach einem sechswöchigen Klinikaufenthalt ein?

Ja. Die Ambulanzen sind natürlich kein Allheilmittel, es kann immer etwas passieren, aber die Wahrscheinlichkeit ist wesentlich geringer. Und um das klarzustellen: Gewalttätige Übergriffe sind immer Einzelfälle. Die Ambulanzen schließen unter anderem eben diese therapeutische Lücke, wenn ein Patient mit Vorgeschichte entlassen wird und nicht mehr ausreichend betreut wird.

Das kann ein gesetzlicher Betreuer also überhaupt nicht leisten?

Die Betreuer haben oft gar nicht den entsprechenden Hintergrund, das kann man ihnen auch nicht vorwerfen. Es wäre falsch, dem Betreuer den Schwarzen Peter zuzuschieben. Man kann von einem gesetzlichen Betreuer nicht verlangen, dass er das Gefährdungspotenzial des Betreuten einschätzen kann. Fachleute können das aber, sie erstellen Prognosen: Wie ist das akute Gewaltrisiko heute? Wie ist das akute Gewaltrisiko in einer Woche? Und in welchen akuten Situationen knallt es? Als Experte ist das nicht schwer, in 99,9 Prozent der Fälle kommt man zu einem vernünftigen Befund. Gewalt in der Vergangenheit ist ein guter Indikator, dass wieder etwas passieren kann.

Unser Eindruck ist: Nach einem Angriff mit Todesfolge schieben die Beteiligten die Verantwortung hin und her.

Ja, wenn etwas Schreckliches passiert, beginnt häufig das Schwarze-Peter-Spiel. Ich glaube aber nicht, dass das hilft, um solche Fälle künftig zu vermeiden. Das Ziel sollte sein: Was lernen wir daraus und was sollen wir anders machen?

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Die Stadt Köln hat nach dem Tod von Kurt B. ein zentrales Melderegister eingeführt, er wusste ja nichts von dem früheren Angriff auf eine Kollegin aus einer anderen Abteilung. Das ist nun anders.

Das hilft zwar den städtischen Mitarbeitern, aber es schützt die Allgemeinheit nicht. Das nächste Mal ist es vielleicht kein städtischer Mitarbeiter, sondern ein Passant, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Einen solchen Fall hatten wir zuletzt in München. Es geht nicht nur um Behördenmitarbeiter.

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