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Anonymer BriefMitarbeiter schießen gegen Lieferdienst „Flaschenpost“

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Flaschenpost Archivfoto 310719

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  • In einem anonymen Brief kritisieren Mitarbeiter den Lieferdienst „Flaschenpost“ scharf.
  • Bemängelt werden unter anderem die Hygiene in den Lagern und nicht vorhandene Klimaanlagen.
  • Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt es dennoch.

Köln/Düsseldorf – Die sieben Seiten sind dicht beschrieben „Überlastungsanzeige“, steht fett gedruckt in der Betreffzeile des Briefs. Was folgt, sind schwere Vorwürfe an die Führungsspitze von Flaschenpost, einem Start-up aus Münster, das die Getränke-Lieferung revolutionieren will: Auch bei extremer Hitze hätten Mitarbeiter in der Vergangenheit ohne Klimaanlage in den Transportern Getränke ausliefern müssen, teilweise seien die Klimaanlagen in den Fahrzeugen sogar abgeklemmt worden, um Sprit zu sparen; der Zeitdruck sei hoch; die Toiletten in den Lagern in einem verheerenden Zustand, statt Vollzeitstellen gebe es lediglich Aushilfs- oder Teilzeitjobs.

Es sind Vorwürfe, die am Bild des Vorzeige-Start-ups kratzen, das Flaschenpost bislang war. Denn das Unternehmen ist seit dem Start 2016 auf den ersten Blick eine echte Erfolgsgeschichte. Von namhaften Investoren wie Tiger Global, Cherry Ventures oder Vorwerk Ventures konnte das Team seit der Gründung mehr als 70 Millionen Euro einwerben, die letzte Finanzierungsrunde über rund 50 Millionen ist dabei erst wenige Wochen her. Das Geld nutzt das Unternehmen, um das Wachstum voranzutreiben, allein in NRW ist Flaschenpost bereits in Städten wie Münster, Köln (seit Juni 2017), Düsseldorf, Duisburg und Dortmund vertreten.

Start-Up expandiert nach Österreich und in die Schwiez

In den nächsten Monaten dürften weitere Standorte hinzukommen, auch die Expansion in die Schweiz oder Österreich könnte dann folgen. Da kommen solche Vorwürfe wie jene der vermeintlichen Mitarbeiter natürlich zur Unzeit. Dabei ist unklar, ob das Schreiben tatsächlich von Flaschenpost-Mitarbeitern stammt – es ist anonym verfasst, die Verfasser begründen dies mit Angst vor den Konsequenzen. „Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt, dass geäußerte Kritik (auch berechtigte) an der Firma in etlichen Fällen mit fristloser Kündigung des jeweiligen Arbeitsvertrages durch sie quittiert wurde“, heißt es.

Viele Vorwürfe sind auch nicht neu, sondern standen bereits in der Presse – wie jene, dass Flaschenpost im Jahrhundertsommer 2018 die Klimaanlagen in Fahrzeugen abklemmt und Fahrzeuge ohne Kühlung eingesetzt habe.

Dennoch sagt Piet Meyer von der Gewerkschaft NGG: „Ich halte den Brief für realistisch und authentisch.“ Meyer kennt viele Mitarbeiter im Unternehmen und darf bei Sitzungen des Betriebsrates dabei sein. Und auch bei Flaschenpost nimmt man die Vorwürfe offenbar ernst. Denn das Schreiben ist nicht nur in den Redaktionen mehrerer Medien eingetroffen, sondern auch in der Zentrale des Start-ups in Münster. Man sei jedem aufgeführten Thema nachgegangen, betont Flaschenpost-Chef Stephen Weich.

Das Unternehmen räumt ein, dass ein Teil der Fahrzeugflotte tatsächlich nicht mit einer Klimaanlage ausgestattet ist. „Hierbei handelt es sich allerdings um die Fahrzeuge der ersten Generation, die nur in Ausnahmefällen noch zum Einsatz kommen“, sagt Weich. Der Vorwurf, es seien im vergangenen Jahr Klimaanlagen bewusst manipuliert worden, weist Weich hingegen entschieden zurück.

Toiletten-Vorwürfe zurückgewiesen

Und die schmutzigen Toiletten, auf denen nicht mal Seife für die Hände zur Verfügung stehen soll? Jeder Lagerstandort werde von professionellen Reinigungskräften täglich gereinigt, sagt Weich: „Und es stehen zu jeder Zeit Handseife, Papierhandtücher und Desinfektionsmittel zur Verfügung“, sagt Weich: „Da wir diese Reinigungs- und Hygieneartikel auch in unserem Shop verkaufen, sind sie auch stets auf Lager und verfügbar.“

Überhaupt: Eine interne Mitarbeiterbefragung habe ergeben, dass die Arbeitsbedingungen bei Flaschenpost als sehr fair, der Umgang miteinander als freundschaftlich-wertschätzend, und die Entwicklungsmöglichkeiten als besonders positiv bewertet werden.

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Dennoch sagt Gewerkschafter Piet Meyer: „Ich sehe die Arbeitsbedingungen kritisch.“ In der Zentrale in Münster sei Flaschenpost zwar ein typisches Start-up-Unternehmen, dort gehe alles sehr kumpelhaft und kollegial zu. „Ich habe das Gefühl, dass der Druck auf die Mitarbeiter eher auf der mittleren Führungsebene entsteht“, sagt der Gewerkschafter.

Denn genau wie bei vielen anderen Digitalunternehmen wie den Essenslieferanten Foodora oder dem Fahrdienstanbieter Uber, die mit Hilfe gut bezahlter Fachkräfte eine Plattform aufbauen, über die eher schlecht bezahlte Fahrer dann Aufträge abwickeln sollen, gibt es auch bei Flaschenpost eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. So bekommen Lagerarbeiter und Fahrer anfangs nach Firmenangaben etwas mehr als den Mindestlohn und können dann auf einen Lohn von bis zu 14 Euro kommen – plus Trinkgeld.

Viele Mitarbeiter sind nur befristet beschäftigt

Viele sind zudem nur befristet beschäftigt. Das gilt nach Angaben der NGG auch für die rund 200 Mitarbeiter, die in Düsseldorf für Flaschenpost arbeiten. Dass man bewusst auf unbefristete Vollzeitverträge verzichtet, wie es die Schreiber des Briefs behaupten, bestreitet Weich: „Die Bindung und Weiterentwicklung der Mitarbeiter hat für den Erfolg unseres Unternehmens eine große Bedeutung.“ Natürlich werde die Tätigkeit aber auch von vielen als Studenten- oder Übergangsjob genutzt.

Bei der Gewerkschaft Verdi drängt man darauf, dass die Politik die Rahmenbedingungen ändert: „Die Politik sollte Voraussetzungen schaffen, um durch die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel den Verdrängungswettbewerb zwischen den Arbeitgebern zu beenden“, sagte eine Sprecherin. Die Tarifbindung sei das Minimum, um den Weg aus den prekären Beschäftigungsverhältnissen heraus zu gestalten.

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