ArchiveinsturzRestauratorin suchte im fünften Stock kurz vorher nach Kartons

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An der Einsturzstelle spricht Nadine Thiel mit der Rundschau über den Tag, an dem sie beinahe ihr Leben verlor.

An der Einsturzstelle spricht Nadine Thiel mit der Rundschau über den Tag, an dem sie beinahe ihr Leben verlor.

  • Nadine Thiel überlebte den Kölner Archiveinsturz nur, weil sie rechtzeitig umkehrte.
  • Als sie sich am Notausgang Richtung Löwengasse umdrehte, kippte das Archiv zur Severinstraße weg.
  • Rückblickend sagt sie auch: „Der Einsatz digitaler Technik ist durch den Einsturz weit nach vorne katapultiert worden.“

Köln – „Es hörte sich an, als wenn jemand mit Kelle und Mörtel eine Wand verputzt“, sagt Nadine Thiel. Nur konnte im fünften Stock des Magazingebäudes an der Severinstraße niemand eine Wand verputzen. Die Fassade war mit dicken Betonplatten verkleidet, und innen hatte nur Archivpersonal Zutritt zu den alten, empfindlichen Schriftstücken, die teils seit Jahrhunderten von der Stadt aufbewahrt wurden. Das Geräusch blieb merkwürdig.

Aber mangels Idee, was dahinter stecken könnte, konzentrierte sich Thiel darauf, was sie im fünften Stock wollte: Kartons holen. Bei einem Wasserschaden im Sommer zuvor war die historische Handbibliothek beschädigt worden. In der damaligen Fachhochschule am Ubierring, in der sie studiert hatte, wurden die vom Schimmel bedrohten Bücher nach und nach eingefroren und gerettet. Niemand ahnte, dass bald viel mehr und wertvollere Dokumente mit Gebäudetrümmern ins Grundwasser gerissen würden und die gleiche Behandlung benötigen würden.

Treffen um 14 Uhr

Um 14 Uhr wollte sich Thiel mit dem Verwaltungsleiter des Stadtarchivs vor der Tür treffen, eine neue Charge nasser Bücher zum Trocknen bringen und bereits getrocknete Bücher abholen. „In dem Kabuff, in dem die Kartons sein sollten, sah ich aber keine, darum bin ich schnell wieder zurückgegangen.“ Sie war die einzige zu dieser Zeit, die sich in dem Magazingebäude aufhielt. Sieben Stockwerke hoch nur Lagerräume – abgesehen vom Erdgeschoss, das für Ausstellungen und als Durchgang für Besucher des Lesesaals großzügig verglast war. Alles Ende der 60er Jahre so stabil gebaut, dass es noch hätte aufgestockt werden können.

„Ich war mit dem Aufzug hochgefahren, bin dann aber die Treppe heruntergegangen. Das mache ich oft, um mich fit zu halten.“ Am Übergang zum Anbau bemerkte Thiel einen riesigen Riss. 30 bis 40 Zentimeter zeigen ihre Hände, von zehn bis 20 Zentimetern spricht sie. Eigentlich weiß sie aber nicht mehr, wie breit dieser Spalt schon war. Seine Bedeutung wurde ihr erst später klar, dass sich nämlich das Gebäude bereits in Bewegung gesetzt hatte und Richtung Severinstraße kippte.

Ihr blieb auch nicht viel Zeit, über den Riss nachzudenken, denn im eingeschossigen Hintergebäude, wo ihre Werkstatt war, drängte der Haustechniker alle, das Haus zu verlassen. Thiel ließ Jacke und Handy zurück, nahm nur die Praktikantin mit. „Ich dachte, es wäre nur so ein Feuerwehr-Alarm und wir gehen danach wieder rein. So wie bei dem Feuerwehreinsatz im Jahr zuvor, als die CO2 -Löschanlage im Keller defekt war.“ Doch es kam anders.

Archiv kippte zur Seite weg

Als sie sich am Notausgang Richtung Löwengasse umdrehte, kippte das Archiv zur Severinstraße weg. „Es war total surreal. Meine Erinnerung ist wie ein Stummfilm. Fachleute haben uns erklärt, eine Schutzfunktion für Geist und Seele filtert Geräusche aus der Erinnerung. Ich habe nur eine riesige Staubwolke vor Augen, die lange dort stand, wo das Gebäude war.“ Thiel war übel, weil Kollegen fehlten. Sie wusste noch nicht, dass sie über die Severinstraße fliehen konnten.

Die Stunden danach verbrachte sie bei der Feuerwehr, im Krisenstab und dann wieder an der Einsturzstelle. „Ich hatte von der Feuerwehr Helm und Jacke bekommen und bin mit dem stellvertretenden Leiter des Archivs, Ulrich Fischer, über die Trümmer gelaufen, um die Feuerwehr einzuweisen. Hier war mal das, dort das.“ Als sie die lange Kette von Mischfahrzeugen sah, die der Krisenstab aus Furcht vor weiteren Erdbewegungen an der Einsturzstelle 2000 Kubikmeter Beton abladen ließ, bekam sie einen neuen Schreck. „Ich dachte: Hier wird gerade das Archivgut betoniert.“

Die geschockten Helden

Historisches Archiv der Stadt Köln, 3. März 2009, kurz vor 14 Uhr. Hausmeister Rudi B. hört ein Knistern, Bibliothekarin Elfi J. ein Rieseln. Beide verstehen augenblicklich die leisen Anzeichen für den bevorstehenden Einsturz des siebenstöckigen Archivgebäudes. Und beide warnen – ohne vom jeweils anderen zu wissen oder Angst vor einem falschen Alarm zu haben – arglose Handwerker auf dem Dach, Besucher im Lesesaal und Mitarbeiter in den Büros. So werden sie zu Helden.

Die beiden Mitarbeiter hätten sich mit ihrem Verhalten fürchterlich blamieren können. Wenn nicht kurz darauf tatsächlich das Historische Stadtarchiv zusammengestürzt wäre. Und beide waren so überzeugend, als sie Alarm gaben, dass ihnen die Gewarnten sofort Folge leisteten.

Rudi B. hatte nur ein Bauchgefühl, das anderen Menschen das Leben rettete. Aber zunächst hatte er das Knistern, das er von seinem Büro aus hörte, falsch interpretiert. Er dachte, die beiden Dachdecker auf einem Anbau hinter dem Magazingebäude hätten unvorsichtigerweise ein Feuer entfacht. Doch dann fiel dem Hausmeister ein, wo er das Geräusch schon einmal gehört hatte: Bei einer Fernseh-Dokumentation über den Einsturz eines Gebäudes. Rudi B. warnt die Handwerker und den Verwaltungschef. Der will sich erst selbst überzeugen, wird aber von den ersten Gesteinsbrocken überzeugt, die bereits in den Innenhof prasseln. Der Mann schließt noch die Personalakten ein und schaut dann mit dem Hausmeister in die anderen Büros. Rudi B. verhindert, dass eine Angestellte, Richtung Severinstraße statt zum Notausgang an der Rückseite geht. Sie hätte es nicht überlebt.

Elfi J. weiß bis heute nicht, warum sie bei dem Geräusch sofort an mahlende Kieselsteine dachte. Aber das Geräusch kam aus den Etagen über ihr, als sie am Ende der Mittagspause drei Mal durch die Eingangshalle ging – zur Stempeluhr, zum Spind, um ihren Rucksack wegzuschließen, schließlich zum Lesesaal. Dabei wurde ihr klar, dass über ihr die Wände brachen. Sie lief los, riss die Glastür zum Raum auf, in dem Menschen in aller Stille Dokumente studierten und rief „Alles raus!“ Das Entsetzen in ihrem Gesicht verlieh ihren Worten Überzeugungskraft. So durchquerte sie mit den Besuchern ein viertes Mal das Erdgeschoss des Magazingebäudes. Draußen auf der Severinstraße gaben allerdings ihre Knie nach. Sie sank beim Anblick des einstürzenden Archivs gegen eine der Säulen vor dem Haus und wurde von der Staubwolke, die das Haus ersetzt hatte, eingeholt. Ein Mann packte sie und zog sie fort. „Sie müssen weiter. Sie haben uns alle gerettet.“

Zehn Jahre später: Rudi B. kann nicht mehr in geschlossenen Räumen arbeiten. Er ist in die Grün-Abteilung der Stadt gewechselt. Elfi. J., für die eine Rückkehr an die alte Arbeitsstätte ausgeschlossen ist, arbeitet nun bei der Stadtbibliothek. Beide haben es vorgezogen, am zehnten Jahrestag des Einsturzes nicht in Köln zu sein. (mfr)

In der Nacht durften Thiel und Kollegen noch einmal ins Hintergebäude. „Im Dunkeln sahen wir nicht, dass der Flachbau vorne über dem Einsturztrichter in der Luft hing.“ Jacke und Handy sowie die wertvollen Handschriften, an denen sie morgens gearbeitet hatte, holte sie raus. Doch ihr privates Werkzeug musste sie zurücklassen.

„Ich habe es mir im Studium erarbeitet. Es ist nicht leicht, passende Pinsel, Lineale, Skalpelle und Fadenzähler zu finden. Vermutlich ist es unter die Räder gekommen, als für einen Bagger von hinten durch die Gebäude eine Schneise gebrochen werden musste.“ Feierabend hatte sie erst am Abend des nächsten Tages. Ihr alter Professor schickte sie ins Bett.

Thiel kannte das Archivgebäude seit Januar 2007. Gleich nach dem Diplom hatte sie im Auftrag des Landschaftsverbands am Schwerpunktzentrum Köln mit der Entsäuerung von amtlichen Akten aus der Zeit seit der Industrialisierung begonnen. Ihr Beruf hatte sich gerade erst vom Handwerk zur akademischen Tätigkeit entwickelt, in der Materialkunde und Organisation eine große Bedeutung spielten. Nun wuchs sie in eine neue Aufgabe hinein: Als Leiterin der Restaurierungswerkstatt konzipierte sie neue Verfahren zur Rettung der Überreste des Archivguts. „Mengenbehandlung“ war schon ihr Thema im Studium.

Gedenken

Die Schull- un Veedelszöch stoppen morgen auf der Severinstraße, wo der Zug wegen der Unglücksstelle in die Löwengasse abbiegt. Die „Hellige Knäächte un Mägde“ der Lyskircher Junge tanzen. Die Initiative Archivkomplex spricht ab 13.15 Uhr, um 13.58 Uhr, dem Zeitpunkt des Unglücks, läuten Kirchenglocken. (mfr)

Nun entschied sie, wie viel Zeit jedem Fetzen durchnässten Papiers gewidmet werden durfte, um seine Informationen zu retten. „Der Einsatz digitaler Technik ist durch den Einsturz weit nach vorne katapultiert worden.“ Schon am 18. März 2009 konzipierte sie mit Fischer das Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum. Als Notfallberater reisten die beiden 2018 nach dem Brand im brasilianischen Nationalmuseum nach Rio de Janeiro.

„Es ist mein Naturell, etwas zu tun, Entscheidungen zu treffen und für die Archivalien zu sorgen. Die Hilflosigkeit zieht einen sonst runter“, sagte Thiel. Auf Fachtagungen macht sie die Restaurierungsneuigkeiten aus Köln bekannt und wirbt für neue Kollegen. Vor zehn Jahren war sie die einzige Restauratorin im Stadtarchiv, nun leitet sie 30 Kollegen und bereitet für 2021 den Einzug in eine große Werkstatt am Eifelwall vor. „Die Strafprozesse hätten mich interessiert. Wir durften aber nicht hin, weil wir potenzielle Zeugen waren.“

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