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Chronologie des Gladbecker Geiseldramas„Und dann dieser fürchterliche Schrei“

Lesezeit 5 Minuten
Passanten und Journalisten scharen sich auf der Breite Straße um den Fluchtwagen der Geiselnehmer.

Passanten und Journalisten scharen sich auf der Breite Straße um den Fluchtwagen der Geiselnehmer.

Köln – Zwei Tage dauerte schon die Irrfahrt der beiden Verbrecher Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, bevor sie am 18. August 1988 Köln ansteuerten. Hinter ihnen liegt ein Banküberfall in Gladbeck inklusive Geiselnahme, das Kapern eines Linienbusses in Bremen und der Mord an dem 14-jährigen Emanuele der Giorgi. Schließlich stehen sie mit ihren Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitle auf der Breite Straße. Eine Chronologie des 18. August von Ingo Schmitz anhand der Erinnerungen des damaligen stellvertretenden Polizeieinsatzleiters Winrich Granitzka.

08.00 Uhr

 Der Arbeitstag Winrich Granitzkas beginnt mit Bauchschmerzen. „Wir hatten schon tags zuvor den Weg der Geiselnehmer verfolgt. Als es dann hieß, sie seien nun auf Höhe Münster und bewegten sich weiter in Richtung Süden, hatte ich sogleich ein ungutes Gefühl. Ich kannte die Strecke gut. Ich wusste, die können mit ihrem schnellen Auto in kurzer Zeit in Köln sein.“ Warum ausgerechnet Köln? Dass sie gerne die Medien auf ihrer Flucht „bedienen“, hatten die Geiselnehmer schon mehr als genug bewiesen. Die Medienstadt Köln würde gut in dieses Schema passen, dachte sich Granitzka. „Ich habe sofort den Führungsstab zusammengerufen und den Polizeipräsidenten informiert.“

09.04 Uhr

 Der Pkw mit Rösner, Degowski, Löblich sowie Silke Bischoff und Ines Voitle erreicht Wuppertal. Marion Löblich – Rösners Freundin, die nach dem Banküberfall in Gladbeck zugestiegen war – hat seit einem Schusswechsel in den Niederlanden eine Kugel im Bein stecken. In einer Apotheke besorgen sich die Täter Aufputschmittel. Nach weiteren Einkäufen beispielsweise in einer Bäckerei setzen sie die Fahrt in Richtung Süden fort. Granitzkas Ahnung wird immer mehr zur Gewissheit.

10.15 Uhr

 Der Fluchtwagen passiert die Leverkusener Brücke. „Wir waren uns wegen des Steckschusses in Löblichs Bein sicher, die steuern das Heilig-Geist-Krankenhaus in Longerich an“, erinnert sich Granitzka. „So eine Wunde entzündet sich und schmerzt dann höllisch.“ Kurzentschlossen gab es einen Plan für den Zugriff: „Wir wollten vor dem Hospital einen künstlichen Stau erzeugen.“ Doch es kam anders.

10.30 Uhr

  Mittlerweile können die Beamten durch technische Hilfsmittel mithören, was die Täter in dem Auto besprechen. Schock: Sie wollen zum Dom. Granitzka schießt es durch den Kopf: „Die wollen im Dom Geiseln nehmen. Ich habe sofort den damaligen Domkapitular Heinrich Barlage angerufen, ein Freund. Schmeiß die Leute aus dem Dom und mach die Türen zu, habe ich gesagt.“

10.53 Uhr

 Der Fluchtwagen hält auf der Breite Straße an. „Der Wagen war direkt von Journalisten und Passanten umstellt“, erinnert sich Granitzka. Rösner gibt fast schon genüsslich den Reportern Auskunft. Degowski drückt auf Bitten eines Fotografen nochmals seine Pistole an den Kopf von Silke Bischof. „Es waren furchtbare Szenen, die sich dort abspielten. Wir hatten unter anderem unseren Leiter der Pressestelle vor Ort, ein hervorragender Polizist. Der eruierte, welche Waffen die Täter haben. Aber er wurde von einem der Journalisten verraten. ,Pass auf, hier ist ein Bulle unter uns’, sagte er. Die Lage in der Breite Straße war da natürlich absolut außer Kontrolle. Es war überhaupt nicht daran zu denken, dort einen Zugriff zu machen. Es bestand die Gefahr, dass Rösner und Degowski in die Menge schießen. Das wäre ein Desaster geworden.“

12.00 Uhr

 Rösner wird immer nervöser, er empfindet sich als eingekeilt in der Breite Straße. Er will weiter, fuchtelt wild mit der Waffe herum. Der Journalist Udo Röbel bietet sich den Geiselnehmern als Lotse an. Er steigt in den Wagen ein. „Ich hätte ihn am liebsten sonst wo hin getreten“, erinnert sich Granitzka an seine Wut von damals über diesen Vorfall. „Inakzeptabel, fürchterlich. Die hatten von da an eine Geisel mehr.“ Der Fluchtwagen fährt los, raus aus der Stadt. Zahlreiche Wagen mit Journalisten heften sich an die Fersen der Entführer. „Über Funk haben uns Kollegen um Erlaubnis gebeten, auf die Reifen der folgenden Autos schießen zu dürfen. Das haben wir natürlich nicht erlaubt.“

12.30 Uhr

 Der Fluchtwagen fährt auf die A 3 in Richtung Frankfurt. „Wir hatten an mehreren Rastplätzen Autos deponiert, in der Hoffnung, die wollen das Fluchtfahrzeug wechseln.“ Höhe Königsforst geschieht genau das. Der Wagen wurde unter anderem mit einer Abschaltvorrichtung präpariert. Der Druck im Führungsstab steigt: „Wir wussten, die müssen wegen der verletzten Löblich ins Krankenhaus. Das wollten wir unbedingt verhindern. Degowski hatte kaltblütig den kleinen Emanuele erschossen. Er und Rösner durften keiner Menschen mehr habhaft werden.“ Die Gelegenheit zum Zugriff ist da, als der Wagen der Täter auf Höhe von Bad Honnef auf dem Seitenstreifen stehen bleibt.

13.40 Uhr

 Die Abschalteinrichtung im Fluchtfahrzeug wird aktiviert. Ein Spezialeinsatzkommando soll den Wagen so rammen, dass er in optimaler Position für den Zugriff steht. „Ein tausendfach geübter Vorgang“, sagt Granitzka. Doch plötzlich gelingt es Rösner doch, den Wagen zu starten. Das Auto machte einen Sprung nach vorne. Schusswechsel. „Auf einmal Stille. Dann bekamen wir den Funkspruch, die Geiselnahme sei erfolgreich beendet worden, die Geiseln seien unverletzt“, erzählt Granitzka. „Der Jubel war enorm, die Kollegen sprangen auf. Aber irgendetwas ließ mich zweifeln, ich blieb auf meinem Stuhl sitzen, wie versteinert. Und dann dieser fürchterliche Schrei: Rettungssanitäter. Die verblutet mir unter den Händen.“ Silke Bischoff wurde von einer Kugel aus Rösners Waffe getroffen. Sie stirbt noch auf der Autobahn.

 Granitzka ist sich sicher, die Medien würden sich heute nicht mehr so verhalten wie damals. Aufgrund des Gladbecker Geiseldramas wurde der Pressekodex verschärft. „Doch ich fürchte, in Zeiten des Internets stünden heute selbst ernannte Reporter mit ihren Handys um den Fluchtwagen.“ Die Polizei hat nach dem Geiseldrama ihre Organisationsstrukturen für Großlagen verändert. Dieter Degowski wurde am 15. Februar 2018 aus der Haft entlassen. „Ich bin kein Richter und akzeptiere selbstverständlich das Recht“, sagt dazu Granitzka. „Aber mein Gefühl sagt mir, es wäre besser gewesen, gegen Degowski damals Sicherungsverwahrung zu verhängen. Dass er heute resozialisiert sein soll, ist für mich schwer vorstellbar. Zu jemanden, der derart kaltblütig einen 14-jährigen Jungen erschießt, kann ich nur sagen: Wer nie sozialisiert wurde, kann auch nicht resozialisiert werden.“ Granitzka lassen die Ereignisse von damals nicht los. „Es braucht nur ein Geräusch, ein Datum wie den 18. August und alles steht wieder vor Augen.“

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