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Roncalli-Chef Bernhard Paul„Jetzt kämpfen wir ums Überleben“

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Besorgter Circus-Chef: Bernhard Paul musste die gesamte Roncalli-Tournee in diesem Jahr absagen

  • Der Circus Roncalli musste seine Tournée in diesem Jahr aufgrund der Pandemie absagen.
  • Simon Westphal erreichte Roncalli-Chef Bernhard Paul (73) auf Mallorca und sprach mit ihm über die Krisen-Situation.

Köln – Im März wurde der Tournee-Auftakt in Recklinghausen einen Tag vor dem Start abgesagt. Was war das in dem Moment für ein Gefühl? Wenn man sich die Chronologie anschaut, dann geht es ja viel früher los. Wir haben das Programm „All for Art for All“ zwei Jahre lang vorbeireitet, davon ein Jahr sehr intensiv. Wir haben Musik und Kostüme dafür gemacht, neue Holographien und, und, und. Zwei Wochen vor dem Start haben wir alles mit einem Sonderzug nach Recklinghausen gebracht, dazu kommen jede Menge Sattelschlepper und Wagen. Das ist ein Riesenaufwand. Bei den Proben waren wir selber erstaunt, wie schön das Programm mit der Zeit wurde.

Dann war Generalprobe. Alle die da waren, waren sich sicher: Das wird das beste Programm aller Zeiten. Eine Schwangerschaft ist kurz im Vergleich zur Vorbereitung eines neuen Circus-Programms. Wir waren die ganze Zeit schwanger, die Geburt stand bevor, man lag eigentlich schon im Kindesbett.

Und dann kam die Absage.

Nach der Generalprobe kam der Bürgermeister und sagte: Es tut mir so leid, aber es ist alles abgesagt. Das trifft einen natürlich hart. Jetzt stand ich da mit einem fertigen Programm und 150 Leuten und musste wieder alles abbauen und nach Köln schaffen. Allein das Auf- und Abbauen und der Transport hat uns 500 000 Euro gekostet.

Was haben Sie in dem Moment gedacht, wie lange die Pause dauern wird?

Wir haben gesagt: Dann fangen wir halt erst in Köln an. Dann wurde das auch nichts, dann dachten wir, wir starten in Düsseldorf. Und so ging es immer weiter. Auch unsere Gastspiele in Österreich haben wir jetzt abgesagt. Die ganze Tournee ist komplett um ein Jahr verschoben worden. Und jetzt kämpfen wir ums Überleben.

Nach der Absage in Recklinghausen haben Sie einen Brief an NRW-Ministerpräsident Armin Laschet geschrieben. Fühlten Sie sich ungerecht behandelt?

Das nicht. Für die Pandemie kann ja niemand was. Bei alldem, was dann aber passiert ist, wurde die Kultur vergessen. Dabei setzt die Veranstaltungsbranche mehr um als zum Beispiel die Fußball-Branche. Niemand hat an uns gedacht. Deswegen der Brief.

Gab es eine Antwort?

Ich habe nur eine Adresse einer Frau bekommen, die für Kultur zuständig ist. Und die hat mir gesagt, wir, der Circus, wären nicht Kultur. In der EU ist Circus in jedem Land Kultur. Nur in Deutschland nicht, weil Herr Goebbels den Circus im dritten Reich aus der Kultur ausgeschlossen hat. Dann habe ich Herrn Laschet wieder geschrieben. Er meinte nur, er könne nichts machen. Da fühlt man sich schon sehr allein gelassen.

Was hätten Sie sich von ihm gewünscht?

Dass man den Circus rettet. Wir sind Kulturbotschafter des Landes Nordrhein-Westfalen. Wir waren für das Land bei der Weltausstellung in Sevilla. Wir waren für das Land in Moskau. Wir haben alles revolutioniert. Wir sind tierfrei und seit zwei Jahren plastikfrei. Wir haben die Holographie in den Circus gebracht. Da wurde in 150 Ländern drüber berichtet. Wir zahlen unsere Steuern seit 43 Jahren in NRW, und das nicht zu knapp. Dazu zahlen wir Gewerbesteuer, was sonst niemand zahlt, der mit Kultur zu tun hat. Und jetzt wird uns nicht geholfen. Als was zählen Sie, wenn nicht als Kultur? In der Berufsgenossenschaft stecken wir in der Schublade „Gastronomie“. In der ganzen EU wird der Circus gefördert, nur hier nicht. Fast alle namhaften Circusse in Deutschland sind in den letzten Jahren pleite gegangen. Das hat gar keiner bemerkt.

Wie lange kann der Circus noch überleben, ohne zu spielen? Wenn man eine Viehherde hat und die auf ihrer Weide allein lässt, kann sie eine Weile überleben – irgendwie. Aber wann es soweit ist, das kann keiner vorher bestimmen. Wir kämpfen und machen, was geht.

Seit Weihnachten gibt es keine Einnahmen. Können Sie die Verluste beziffern? Nein, das geht noch nicht. Es sind hohe Verluste, präziser geht es noch nicht. Gibt es Hilfe von der Stadt Köln? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Es ist bereits klar, dass wir im nächsten Jahr wieder auf den Neumarkt kommen werden. Jetzt habe ich gehört, dass Frau Reker nichts Besseres zu tun hat, als einen Springbrunnen am Neumarkt zu bauen. Das hieße ja, dass wir da nicht mehr spielen können. Und uns, einem Kölner Unternehmen, hilft die Stadt nicht, dass wir am Leben bleiben. Seit mehr als zwei Jahren warte ich auf verschiedene Genehmigungen für unser geplantes Circusmuseum, das wir auf eigene Kosten bauen wollen.

Sie hat mir auch seit längerer Zeit versprochen, dass was passiert. Sie hat aber keinen Finger krumm gemacht. Ich habe sie schon oft eingeladen ins Winterquartier in Mülheim. Nicht ein Mal ist sie dagewesen. Das Kölner Unternehmen Roncalli, das es seit 43 Jahren gibt, das müsste der Stadt doch irgendwie ein bisschen ans Herz gewachsen sein. Das finde ich traurig. Auch in der Pause haben Sie Neues geschaffen. Sie haben zum Beispiel den Circus mit einer Show in Mannheim ins Autokino gebracht. War das eine gute Idee? Das hat zwar ziemlich viel Presse gebracht, aber finanziell war das minimal. Das komische ist, dass sogar da Stimmung aufgekommen ist. Obwohl das dann eher Hupen und Scheibenwischer waren. Das Publikum wollte uns helfen. Sie wollen, dass wir überleben und dass es uns gut geht. Da war so viel Wärme. Das war toll für uns. Angenommen, die Tournee könnte im nächsten Jahr komplett nachgeholt werden. Werden Sie dann sicher sagen können, dass der Circus überleben wird? Noch mal: Wir werden alles dafür tun. Wir haben ja schon viele schwere Zeiten erlebt, aber wir sind immer wie Stehaufmännchen, wie der Phönix aus der Asche wiedergekommen.

Wie würde der Neustart aussehen? Kinos dürfen ja zum Beispiel schon wieder aufmachen. Wenn da dann aber jeder zweite Platz und jede zweite Reihe frei bleiben muss, dann können die Betreiber gerade mal den Strom zahlen. Das hilft ja nicht.

Heißt, eine geringere Anzahl an Zuschauern im Circuszelt ist aus finanzieller Sicht keine Option? Das ist keine Lösung des Problems. Wir brauchen eine bestimmte Anzahl an Zuschauer, um überleben zu können. Es gibt einen Punkt, an dem man sagen kann: Ab da sind wir kostendeckend. Zumindest diesen Punkt müssen wir erreichen. Wir wollen ja gar nicht mal was verdienen. Aber alles unter dieser Grenze macht keinen Sinn. Dann machen wir nur Schulden. Wie viele Zuschauer müssten den zugelassen werden, um kostendeckend spielen zu können? Na ja, wir haben 1500 Sitzplätze. Wenn man 1000 reinlassen darf, wäre das schon gut. Wir haben ja keinen geschlossenen Raum, sondern fliegende Bauten. Wir haben oben eine Kuppel, die aufgeht. Und auf der Seite können wir auch aufmachen. So ist ständig frische Luft drin. Außerdem haben wir eine Klimaanlage. Im Flugzeug geht’s ja auch, dass alle nebeneinander sitzen. Wie viele Arbeitsplätze hängen am Circus Roncalli? 150 im Circus Roncalli und 100 im Apollo Varieté. Was machen die Künstler jetzt? Das ist ganz verschieden. Manche sind in der Heimat. Manche bleiben auch hier, weil die Lage in der Heimat noch schlechter ist. Wir sorgen natürlich dafür, dass keiner verhungert. Sie trainieren ganz normal weiter. Auch meine Tochter Lilli trainiert hier auf Mallorca jeden Tag. Im September wollen Sie wieder im Apollo Varieté in Düsseldorf spielen. Wir müssen irgendwie versuchen, partiell Leben in das Ganze zu bringen. Das hängt natürlich immer von der ganzen Entwicklung ab, die ja niemand kennt. Im Varieté zahlen wir ja auch Miete. Und wir hatten jetzt das gesamte Jahr nicht auf. Man kann sich nicht hinsetzen und sagen: Der Staat muss tun. Wir tun alles, was möglich ist, aber der Staat muss uns helfen, weil sonst steht er nachher da ohne Kultureinrichtungen. Es werden irrsinnig viele Kinos zusperren, und Konzerthallen werden pleitegehen.

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