Ein Plädoyer für Wechselunterricht„Die Menschen können nicht mehr“

Lesezeit 5 Minuten
Doppelt belastet, und das über Monate hinweg, sind vor allem Frauen mit kleinen oder schulpflichtigen Kindern.

Doppelt belastet, und das über Monate hinweg, sind vor allem Frauen mit kleinen oder schulpflichtigen Kindern.

  • Beim Umgang mit der Corona-Pandemie lässt sich die Landesregierung von Experten beraten.
  • Dazu gehört Monika Kleine, Geschäftsführerin des Kölner Sozialdienstes katholischer Frauen.
  • Diana Haß hat mit ihr gesprochen.

Köln – Seit dem 16. Dezember gilt der zweite harte Lockdown. Wie geht es den Menschen aus Ihrer Sicht?

Auf der hoffentlich letzten Wegstrecke des zweiten Lockdowns würde ich sagen, die Gesellschaft – und damit meine ich Kinder, Familien, Frauen, Wirtschaft, Kultur, Handel – ist in einer Kombination aus genervt und völlig erschöpft. Ich finde, das Wort Erschöpfung trifft den Zustand am ehesten. Die Menschen können nicht mehr. Die Dreifachbelastung in den Familien zwischen Homeschooling, Haushalt und Homeoffice, häufig auf wenigen Quadratmetern, ist zermürbend. Denn auf der anderen Seite steht kein positives Gegengewicht: kein Fest, kein Treffen mit Freunden, kein Theater, kein Sport, keine Reise.

Trifft das nur Menschen in prekären Verhältnissen?

Nein. Selbst stabile Familien, die ich auch privat kenne, sagen, dass die Kinder so etwas wie depressive Züge entwickeln. Gerade Kindern fehlt die Peergroup, denen fehlt das Lernen voneinander und miteinander, Einordnung in Gruppen, das Sich-Reiben, die Freizeitgestaltung,

Das heißt, bei den Kindern muss man nacharbeiten, sobald sie wieder in der Betreuung sind?

Absolut. Es gibt Projekte, wo man Kindern eine Art Auffang-Zeit schenkt, um Dinge, die im Lockdown nicht möglich waren, nachzuholen. Sie brauchen eine Zeit des Wiederankommens, sonst werden wir viele abgehängte Kinder und Jugendliche haben. Nicht jedes Familiensystem, unabhängig vom sozialen Status, kann die Unterstützung leisten, die im Lockdown nötig ist.

Wie steht es um das Kindeswohl?

Im Moment sind die Seismographen, also die Mit-Beobachter, die Mit-Hüter, die Mit-Sorger nur bedingt im Einsatz. Das heißt, sie bekommen Kinder und ihre Belastungen nicht mit. Nach dem ersten Lockdown haben wir einen Anstieg an Meldungen zu Kindeswohlgefährdungen erlebt, als die Kinder wieder in der Schule oder Kita waren.

Zur Person

Seit 1993 ist Monika Kleine Geschäftsführerindes SKF Köln. Die Sozialpädagogin hat zunächst in Wuppertal unter anderem in sozialen Brennpunkten und in einer Inobhutnahmestelle für Jugendliche gearbeitet, bevor sie 1987 in die Schwangerschaftsberatungsstelle des SkF Köln wechselte. Im Alter von 18 Jahren wurde sie Mutter. Kleine ist Mitglied der Kölner Ethikkommission, die sicherstellen soll, dass überzählige Impfdosen unter transparenten Kriterien an besonders schutzbedürftige Menschen verimpft werden.

Welche Lockdown-Verlierer machen Sie noch aus?

Wohnungslose sind stärker ausgegrenzt denn je. Die Prostituierten sind die absoluten Verlierer. Sie können ihrer Arbeit nicht nachgehen, sie haben also kein Einkommen. Der Weg in unser Hilfesystem von Grundsicherung ist sehr, sehr mühsam und braucht sehr viel Unterstützung. Die Not der Prostituierten habe ich so in meiner Arbeit noch nie erlebt. Wir haben es wirklich mit Hunger zu tun, mit existenzieller Not. Teilweise hatten die Prostituierten keine Unterkunft mehr. Wir haben so viele Überlebenspakete gepackt wie noch niemals.

Jetzt gibt es auch Stimmen, die Prostitution generell verbieten wollen.

Diese Bewegungen sehe ich mit Sorge. Die Menschen blenden total aus, dass Prostitution weiter in vielfältiger Weise stattfindet. Sie verlagert sich ins Internet und in die Illegalität. Die Folge: Die Frauen sind vollkommen schutzlos. Sie können Übergriffe auch nicht anzeigen. Man kann doch nicht an die verrückte Idee glauben, dass man Prostitution durch ein Verbot verhindert. Das ist in 2000 Jahren nicht gelungen. Wir haben durch das Prostitutionsschutzgesetz, das 2017 an den Start gegangen ist, die Menschen zum ersten Mal mit Rechten ausgestattet – und diese Rechte können sie momentan gar nicht einlösen.

Plädieren Sie also für die Wiedereröffnung?

Ja. Sofort. Das Hygienekonzept auf dem Straßenstrich Geestemünder Straße funktionierte wunderbar.

Wie gut ist die Politik bisher mit der Pandemie umgegangen?

Ich bin durchweg ärgerlich über die Gegenwartsorientierung, so nennen wir das im Expertenrat. Wir stolpern von Lockdown zu Lockdown. Ich glaube aber, wir müssten viel gezieltere Anstrengungen unternehmen und Ergebnisse und Erfahrungen auswerten. So könnten wir dann entscheiden, wo Ansteckungsherde sind und was wirklich gefährlich ist. Man müsste sozusagen mit dem Skalpell versuchen, Infektionsherde einzugrenzen. Auch vor dem Hintergrund der Grundrechtseinschränkungen muss man, meiner Meinung nach, alle Anstrengungen unternehmen, die Gesellschaft wieder ans Netz zu bringen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Was sagen Sie zur Diskussion um „Zero-Covid“, also Null Infektionen als Ziel?

Ich glaube, dass die Diskussion ein vollkommen falsches Signal in die Gesellschaft bringt. Wir werden mit diesem Virus leben müssen. Es wird besser werden, wenn wir eine stärkere Durchimpfung haben. Aber zu glauben, wir können mit mathematischen Formeln des Problems Herr werden, halte ich für eine völlige Illusion.

Was sind Ihre Forderungen?

Wir brauchen Wechselunterricht. Wir müssen die Kita-Betreuung regelmäßig anbieten. Wir haben jahrelang das Thema Familie und Beruf gestärkt und im Moment kehren wir zu den alten Rollen zurück: Kinder, Haushalt, Homeschooling. Zum Wohl der Menschen müssen wir auch in mutigere Öffnungsstrategien gehen.

Ist der soziale Aspekt bisher zu kurz gekommen bei der Pandemie-Bekämpfung?

Da verändert sich gerade die Wahrnehmung. Weil jeder Mensch in seinem Nahfeld mitbekommt, dass die Kraft endet, nicht nur bei denen, die ohnehin schon belastet sind, sondern bei allen. Erschöpfung lässt sich nicht so schnell bilanzieren, da werden wir noch forschen müssen.

Hat der SkF seine Angebote runtergefahren in der Pandemie?

Wir haben aus Überzeugung alles aufrechterhalten. Wir gehen nach wie vor in die Familien. Wohngruppen für Jugendliche und andere Einrichtungen kann man sowieso nicht schließen. Wir sind mit keinem Angebot vom Netz gegangen, es sei denn, es wurde geschlossen. Wie beim Straßenstrich auf der Geestemünder Straße.

Rundschau abonnieren