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Interview mit Kölner Flüchtlingshelfer„Juden gehören zur Gesellschaft“

Lesezeit 7 Minuten
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Juden haben einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung Köln geleistet, weiß Victor Ostrovsky. Der gebürtige Russe nennt die Domstadt sein Zuhause.

  • Victor Ostrovsky kam einst selbst als Fremder nach Köln und hilft nun Flüchtlingen, sich hier zurechtzufinden.
  • Mit dem gebürtigen Russen jüdischer Abstammung sprach Bernd Imgrund.

Köln – Direkt an der Inneren Kanalstraße, aber hoch oben: Victor Ostrovskys Büroetage in Neu-Ehrenfeld bietet nach allen Seiten hin ein großartiges Kölnpanorama. Der Gründer des PHOENIX-Köln e.V. für Flüchtlinge raucht noch schnell eine Zigarette, dann geht es los.

Sie sind 1991 aus der Sowjetunion gekommen. Was wissen Sie über Ihre Vorfahren?

Ich bin von mütterlicher wie väterlicher Seite her jüdischer Abstammung. Mein Großvater war Schmied, ein großer, kräftiger Mann. Wie meine Großmutter wurde er 1941 bei dem Nazi-Massaker in der Schlucht von Babyn Jar in der heutigen Ukraine ermordet.

Alles zum Thema Bernd Imgrund

Ihren Namen liest man im Netz mal mit i, mal mit y am Ende.

Das russische Konsulat hat das ursprüngliche Ostrowski beim Passwechsel willkürlich in Ostrovsky geändert. So haben das dann auch die deutschen Behörden übernommen. Ostrow heißt übrigens Insel, der Name ist unter Juden in Russland recht häufig.

Zur Person

Victor Ostrovsky wurde 1970 in Leningrad, heute wieder St. Petersburg geboren. Nach der Schule diente er zwei Jahre in der Roten Armee, bevor er 1991 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland kam. Nach einigen Tagen im Aufnahmelager in Unna-Massen und zwei Monaten in Bochum zog er eines Sprachkurses wegen nach Köln.

Schwierige Anfangsjahre führten ihn zu dem Entschluss, einen Verein für die Integration von Flüchtlingen zu gründen. So entstand 1998 der PHOENIX-Köln e.V., zunächst für russische Immigranten. Der Verein vermittelt Deutschkurse, Praktika und Weiterbildungsmaßnahmen, hilft bei der Arbeitssuche und bei der Anerkennung schulischer und beruflicher Abschlüsse aus den Herkunftsländern. Heute betreut der Neu-Ehrenfelder Verein Einwanderer aus aller Herren Länder, unterstützt von Ostrovskys ebenso polyglotten Mitarbeitern.

Victor Ostrovsky lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen in Neu-Ehrenfeld.

www.phoenix-cologne.com

Es gibt einen ehemaligen Mossad-Agenten namens Victor Ostrovsky, der einige Bücher geschrieben hat.

Ich werde wegen ihm öfters gefragt, wie es beim Mossad war. (lacht) Aber da gibt es keine verwandtschaftliche Verbindung.

Sie kommen aus St. Petersburg, für Westeuropäer eine zauberhafte Stadt. Für Sie auch?

Ich bin in einem Schlafviertel am Stadtrand aufgewachsen. Dort war alles grau und hoffnungslos, von Kultur keine Spur. Aber in der städtischen Subkultur habe ich mich viel herumgetrieben, die hat mich sozialisiert.

Sie haben erst mit sechs Jahren erfahren, dass Sie Jude sind. Wie kam es dazu?

Das war ein absolut traumatisches Erlebnis. Ich habe meinen Eltern zuhause die Judenwitze erzählt, die ich von meinen Spielkameraden gehört hatte. Um dann zu erfahren, dass ich zu diesem Volk gehöre. Meine Reaktion darauf war, mein Judentum in den folgenden Jahren zu verheimlichen.

Wie spürte man den Antisemitismus im russischen Alltag?

Der Antisemitismus in der Sowjetunion war staatlich verordnet. Juden hatten nicht die gleichen Rechte wie die sogenannten Titelnationen, also die Russen, Ukrainer, Weißrussen und so weiter. „Jude“ war ein Schimpfwort, das völlig normal benutzt wurde, es stand zugleich in unserem Pass – denn der Begriff „Jude“ bezeichnete nicht die Religions-, sondern die Volkszugehörigkeit.

Keine guten Voraussetzungen, um wie Sie zwei Jahre in der Roten Armee zu verbringen.

Was ich dort erlebt habe, war übelster Antisemitismus, ganz schlimm! Im übrigen habe ich dort mitbekommen, dass dieser Vielvölkerstaat Sowjetunion nur durch pure Gewalt und durch Angst zusammengehalten wurde. Als ich 1990 aus der Armee entlassen wurde, löste sich die Sowjetunion auf. Ich wusste, dass ich aus diesem Land um jeden Preis heraus musste – egal wohin. Und dann gab es da eben ein deutsches Kontingent für russische Juden.

Wie haben Sie sich Deutschland vor der Ankunft vorgestellt.

Für uns war das eine Terra incognita, wie wenn Sie auf den Mars reisen würden. Es gab die sowjetische Propaganda über den bösen Kapitalismus, klar. Aber was in vielen Haushalten damals wie eine Art Kunstbuch aufbewahrt wurde, war der Otto-Katalog.

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Für den Otto-Versand habe ich mal ein paar Monate Waren ausgefahren. Konnten Sie die von Leningrad aus bestellen?

Natürlich nicht! Aber man blätterte darin, um zu staunen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, was das für eine Gesellschaft ist, die solche Dinge produziert und einen solchen Katalog überhaupt druckt.

Sie kamen im November 1991 in Dortmund an. Ein Kulturschock?

In Leningrad standen wir stundenlang in der Schlange, um in ein mager bestücktes Geschäft zu gelangen. In Deutschland ging ich als erstes in einen kleinen Kiosk, der besser gefüllt war als jeder Laden in der Sowjetunion.

Was haben Sie sich gekauft?

Einen Apfelsaft. Der hat damals fünfzig Pfennig gekostet, sehr viel Geld für mich.

Sie hatten das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein, erzählten Sie später.

Ich habe nicht verstanden, wie man solch ein Land wie dieses überhaupt hinbekommen hat. Dadurch kam ich nie an. Ich bin von Anfang an in die falsche Richtung gegangen und habe katastrophale Entscheidungen getroffen. Ich war depressiv, völlig isoliert und nahe daran, ein Penner zu werden. Sieben, acht Jahre lang war ich auf der falschen Spur, bevor ich meine Lage analysieren konnte.

Und in der Folge haben Sie 1998 Ihren Verein für Immigranten gegründet?

Genau. Der PHOENIX-Köln e.V. soll helfen, dass Flüchtlingen von heute mein Desaster erspart bleibt. Ich will denjenigen helfen, die wie ich in einer Blase leben und zu scheitern drohen.

Was muss man als Flüchtling in Deutschland möglichst schnell lernen?

Die ersten Integrationsschritte müssen in die richtige Richtung gehen. Sie müssen nachhaltig und koordiniert gegangen werden. Allein bekommen diese Menschen das aber nicht hin, sie müssen vertrauensvoll begleitet werden. Wenn sich diese Ansicht politisch durchsetzt, verhindern wir auch das Aufkommen von Parallelgesellschaften.

Fühlen Sie selbst sich heute integriert?

Inzwischen weiß ich, dass Deutschland eines der angenehmsten Länder dieser Erde ist. Zum einen wurde hier die Vergangenheit, anders als etwa in Russland, wirklich aufgearbeitet. Dadurch wurde hier ein Klima geschaffen, dass das Nazitum weitgehend ausschließt. Zum anderen übernimmt Deutschland mit diesem Hintergrund Verantwortung in der Welt, das finde ich wirklich großartig.

Spüren Sie in Ihrer alltäglichen Vereinsarbeit eine wachsende Ausländerfeindlichkeit?

Wir leben in turbulenten Zeiten, die Menschen suchen nach Schuldigen für ihren Abstieg. Auch hier erzählen uns Neuankömmlinge, dass sie wegen ihres fremden Aussehens angemacht werden. Aber wenn ich das mit den frühen 90ern vergleiche, war es damals viel heftiger. Die deutsche Gesellschaft ist heute internationaler und weniger vorurteilsvoll.

Warum sind Sie letztlich in Köln gelandet?

Durch Zufall, weil ich hier einen Sprachkurs besuchen konnte. Den hätte ich auch in Düsseldorf genommen, aber Gott sei Dank war es eben Köln. Ich fühle mich tief verbunden mit dieser Stadt, übrigens auch als Jude.

Inwiefern?

Juden haben einen großen Beitrag geleistet für die Entwicklung Kölns. Dass ich heute hier lebe, beweist, dass die Nazis nicht Recht behalten haben, die das Existenzrecht der Juden leugneten. Juden gehören heute wieder zur Kölner Stadtgesellschaft, und ich spüre das auch.

In die Synagoge gehen Sie aber nicht?

Ich bin nicht religiös aufgewachsen, das lag auch an der sowjetischen Erziehung: Religion war verboten, Gott existiert nicht, lehrte man uns.

Aber als Papst Benedikt die Kölner Synagoge in der Roonstraße besuchte, waren Sie eingeladen.

Ja, ich bin seit Jahrzehnten Mitglied der Jüdischen Gemeinde Köln, wenn auch inaktives. Der Besuch des Papstes war ein ganz besonderes Erlebnis.

Können Sie mit der kölschen Sprache und Kultur etwas anfangen?

In die kölsche Kultur bin ich nie richtig eingetaucht, aber mit meinen Kindern habe ich letztens „Do bes die Stadt“ von den Bläck Fööss gesungen – da geht es ja auch um Köln als Melting Pot. Meine Söhne werden Kölsche Jungen, ganz klar. (lacht)

Sie wohnen länger in Köln als Sie im ehemaligen Leningrad gelebt haben. Sind Sie Kölner?

Wenn ich in St. Petersburg bin, schwimme ich sofort wieder wie ein Fisch im Wasser. Aber wenn ich zurückkomme nach Köln, sage ich mir immer: Hier bin ich zuhause. Das fühle ich in meinem Herz.

Nach dem Gespräch führt mich Victor Ostrovsky noch durch die zahlreichen Büros des Vereins und fragt Berater und Beratene nach ihrem Geburtsland. Die Menschen hier kommen aus Russland, Estland, Ukraine, Kasachstan, Sibirien, Iran, Irak, Syrien, Eritrea und und und … Köln international!

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