Kölner Prozess um tödlichen Unfall mit Müllwagen3,5 Sekunden, die niemals enden

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Der grausame Unfall vor rund einem Jahr versetzte alle Beteiligten in eine Schock. Auch Rettungskräfte brauchten Hilfe.

Der grausame Unfall vor rund einem Jahr versetzte alle Beteiligten in eine Schock. Auch Rettungskräfte brauchten Hilfe.

  • Vor Gericht wurde in Köln am Mittwoch der tödliche Unfall des siebenjährigen Maurice verhandelt.
  • Er zählte unzweifelhaft zu den grausamsten Unfällen in Köln im vergangenen Jahr.
  • Das Verfahren um Aslan E., selbst zweifacher Familienvater, wird am Ende eingestellt. Doch vor Gericht sitzt ein gebrochener Mann.

Köln – Sein Kopf ist tief gesenkt. Mit seinen Händen knetet er krampfhaft ein Taschentuch. Es ist, als wollte er sich an diesem weißen Fetzen festhalten. Aber Aslan E. kann nichts mehr Halt geben. Seit diesem Tag im Mai 2018 fällt er unaufhaltsam ins Bodenlose. Es war der Tag, an dem der Mitarbeiter der Abfallwirtschaftsbetriebe (AWB) mit seinem Müllwagen in den Mathesenhofweg in Widdersdorf abbiegen wollte. Über 200 Mal ist er diese Tour schon gefahren. Problemlos. Doch dieses Mal sollte alles anders sein.

Er habe ihn nicht gesehen, den siebenjährigen Jungen auf seinem Fahrrad, lässt er seinen Anwalt sagen. Aslan E. kann es nicht selbst sagen. Dafür müsste er seinen Kopf heben. Aber diese Kraft bringt der Vater zweier Kinder nicht mehr auf. Auch wenn er es später einmal versuchen wird im Laufe des Gerichtsverfahrens am Kölner Amtsgericht, in dem seine Schuld an dem Tod des Jungen geklärt werden soll.

Abbiegeassistent

Konsequenzen haben die Abfallwirtschaftsbetriebe (AWB) aus dem schweren Unfall im Mai 2018 gezogen. 200 Nutzfahrzeuge der AWB werden jetzt mit einem Kamerasystem nachgerüstet, dass auf einen Bildschirm in der Fahrerkabine eine Rundumblick aus der Vogelperspektive erzeugt.

Im vergangenen Jahr haben die Betriebe mehrere Abbiegesysteme getestet. Systeme mit Warnsignalen wurden dabei als untauglich bewertet. Weil die Fahrzeuge sich oft in engen Gassen bewegen und nah an parkende Autos heranfahren müssen, würde die Signale praktisch permanent auslösen. Bei dem bevorzugten System muss der Fahrer die Lage über Bildschirme im Blick behalten.

Rund eine halbe Million Euro wollen die Betriebe für das Kamerasystem investieren. Noch im Laufe dieses Jahres sollen alle Fahrzeuge der AWB mit dem System ausgerüstet sein. Auf Nachfrage der Rundschau sagte ein Sprecher: „Die Ausschreibung erfolgt in Kürze.“ (ngo)

Er zählte unzweifelhaft zu den grausamsten Unfällen in Köln im vergangenen Jahr: Der siebenjährige Maurice ist gegen 7.45 Uhr in Widdersdorf mit seinem Vater auf dem Weg zur Schule. Beide fahren mit ihren Rädern. Was dann auf der Höhe des Mathesenhofwegs passiert, hat mittlerweile ein Gutachter minuziös untersucht. Der Vater ist zum Zeitpunkt des Unfalls zwischen 30 und 40 Metern seinem Sohn voraus. Maurice folgt ihm mit zwölf Stundenkilometern. Nach dem Unfall wurden Stimmen laut, die Müllfahrer der AWB würden häufig zu schnell durch die Wohngebiete rasen. Laut Gutachter hat Aslan E. zum Zeitpunkt des Unfalls elf km/h auf dem Tacho. Der Experte hat errechnet, es habe ein Zeitfenster von 3,5 Sekunden gegeben, in dem der Angeklagte den Siebenjährigen hätte in seinem Weitwinkelspiegel sehen können. Selbst über die parkenden Autos hinweg? Und in wie weit ist Aslan E. von dem Auto abgelenkt, das ihm in diesem Moment entgegenkommt? Der Autofahrer hält an, um dem Müllwagen in der engen Straße den Platz zum Abbiegen zu lassen.

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Fragen, die das Gericht nicht mehr klären wird – nicht mehr klären will. Klar ist: Maurice fährt beim Überqueren der Straße gegen das Vorderrad des Lkw. „Er fiel bäuchlings zu Boden“, liest die Richterin aus der Anklageschrift vor. Der Kollege Aslan E.’s, der hinten auf dem Trittbrett steht, haut noch mit aller Kraft gegen die Seitenwand des Müllwagens. Doch es ist schon zu spät. Maurice wird vom Hinterrad überrollt.

„Er ist in einem desolaten Zustand“

Und dann listet die Vorsitzende Richterin die zahlreichen Verletzungen des Siebenjährigen auf. Eine schwerer als die andere. Jede einzelne hätte wohl schon für sich zum Tod geführt. Eine qualvoll lange Liste. Aslan E. senkt seinen Kopf immer tiefer. Leicht wippt er mit dem Oberkörper hin und her. Es sind diese Bilder, nochmals heraufbeschworen von der Anklageschrift, die ihn den Boden unter den Füßen weggerissen haben. „Mein Mandant befindet sich seit einem Jahr, seit dem Unfall, in psychiatrischer Behandlung“, sagt der Verteidiger. „Er ist in einem desolaten Zustand.“ Wer wollte es bezweifeln. Der Anwalt bittet um ein Rechtsgespräch. Das Gericht zieht sich zurück. Neben Verteidiger und Staatsanwalt ist auch die Anwältin der Nebenklage bei dem Gespräch dabei. Sie vertritt Maurices Eltern. Sie selbst sind nicht zu der Verhandlung gekommen.

„Das Gericht erkennt einen tragischen Unfallhergang“, sagt die Richterin, als sie wieder zurückkommt. „Das Verfahren wird eingestellt.“ Die Auflage: Der Angeklagte muss einen Monatslohn an ein Kinderhospiz zahlen . „Sie haben das bis heute nicht überwunden. Man sieht ihnen das an“, sagt die Richterin zur Urteilsbegründung. Und ergänzt mit leiser Stimme: „Wir sind alle davon ergriffen.“

Aslan E. versucht, seine Kräfte zu bündeln, sich aufzurichten: „Ich habe selber Kinder. Ich würde so gerne alles rückgängig machen, aber . . .“ Er bricht ab. Er lässt den Kopf wieder sinken. Tiefer noch als zuvor.  

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